Die Räuberbraut
zum Narren gehalten worden zu sein. Sie fand Charis’ Verhalten – dieses barfuß und im Nachthemd durch die Gegend latschen – überhaupt nicht geheimnisvoll oder interessant. Sie fand es theatralisch und bizarr. Roz und die Mädchen im Gemeinschaftsraum mochten nervtötend und lästig sein, aber wenigstens waren sie solide und unkompliziert, sie waren bekannte Größen. Charis dagegen war schlüpfrig und durchscheinend und potentiell klebrig, wie ein Seifenfilm oder Gelatine oder die Tentakel einer Seeanemone. Wenn man sie berührte, blieb vielleicht ein Teil von ihr an einem kleben. Sie war ansteckend wie eine Krankheit, es war besser, nichts mit ihr zu tun zu haben.
19
Keines der McClung-Hall-Mädchen hatte etwas mit Zenia zu tun. Und Zenia wollte nichts mit ihnen zu tun haben. Sie wäre nicht einmal dann in ein Wohnheim gezogen, wenn man sie mit vorgehaltener Pistole dazu gezwungen hätte, sagte sie zu Tony, als sie das Gebäude das erste Mal betrat. Dieses Loch, nannte sie es.
(Warum war sie gekommen? Um sich etwas zu leihen. Was war es noch mal? Tony will sich nicht daran erinnern, erinnert sich aber trotzdem: es war Geld. Zenia war immer knapp bei Kasse. Tony fand es peinlich, gebeten zu werden, hätte es aber noch peinlicher gefunden, nein zu sagen. Was sie heute peinlich findet, ist die Tatsache, daß sie so naiv, so brav, so gefügig mit den Scheinen rausrückte.)
»Wohnheime sind nur was für kleine Leute«, sagte Zenia, während sie die Behördenfarbe der Wände, die schäbigen Sessel im Gemeinschaftszimmer, die Karikaturen, die die Mädchen aus Zeitungen ausgeschnitten und mit Klebestreifen an ihre Türen geheftet hatten, mit verächtlichen Blicken musterte.
»Richtig«, sagte Tony mit dumpfer Stimme.
Zenia sah auf Tony hinunter, lächelte, korrigierte sich. »Geistig klein. Ich hab doch nicht dich gemeint.«
Tony war erleichtert, denn Zenias Verachtung war ein Kunstwerk. Sie war so nahezu absolut; es war ein großes Privileg, davon ausgeschlossen zu sein. Man hatte das Gefühl, noch einmal davongekommen, sozusagen gerechtfertigt zu sein, man war dankbar; jedenfalls empfand Tony es so, als sie in ihr Zimmer tippelte, ihr kleines Scheckbuch heraussuchte, ihren kleinen Scheck ausstellte. Ihn Zenia darbot. Zenia nahm ihn achtlos entgegen, faltete ihn zweimal, steckte ihn in den Ärmel. Beide versuchten so zu tun, als wäre nichts geschehen; als hätte nichts den Besitzer gewechselt, als sei niemand in niemandes Schuld.
Wie sie mich dafür gehaßt haben muß, denkt Tony.
Tony lernte Zenia also nicht unter den McClung-Hall-Mädchen kennen. Sie lernte sie über ihren Freund West kennen.
Sie wußte nicht so genau, wie West ihr Freund geworden war. Er hatte sich mehr oder weniger einfach materialisiert. Es fing damit an, daß er in einer Vorlesung neben ihr saß und sich ihre Notizen für Geschichte der Neuzeit ausborgte, weil er die Stunde davor versäumt hatte, und dann war er ganz plötzlich ein Teil ihrer Routine.
West war der einzige Mensch, mit dem sie über ihr Interesse an Kriegen reden konnte. Sie hatte es zwar noch nicht getan, arbeitete aber langsam daraufhin. So etwas konnte Jahre dauern, und sie waren erst seit einem Monat miteinander befreundet. In den ersten beiden Wochen dieser Zeit hatte sie ihn Stewart genannt, wie seine anderen, männlichen Freunde, die ihm auf die Schulter klopften, ihn in die Rippen boxten und sagten: He, Stew, was gibt’s Neues? Aber dann war er auf ein paar der kryptischen Kommentare gestoßen, die sie an den Rand ihrer Notizen gekritzelt hatte – Nnisdölb nie riifsaw, Lese retla regiliewgnal –, und sie hatte sie ihm erklären müssen. Ihre Fähigkeit, rückwärts schreiben zu können, beeindruckte ihn sehr – Das ist ja ein Ding , hatte er gesagt und er hatte gewollt, daß sie seinen eigenen Namen umdrehte. Er behauptete, der neue Name gefalle ihm bedeutend besser.
Die Mädchen im Wohnheim fingen an, West als Tonys »Freund« zu bezeichnen, obwohl sie wußten, daß er das nicht war. Sie taten es, um sie aufzuziehen. »Na, was macht dein Freund?« rief beispielsweise Roz und grinste Tony aus der durchgesessenen Tiefe des orangenen Sofas an, das noch tiefer einsackte, wenn es Roz war, die darauf saß. »He, Tonikins! Was macht dein heimliches Leben? Wie geht es Mr. Bohnenstange? Daß ich aber auch immer so ein Pech haben muß! Daß die langen Lulatsche immer auf so kleine Krabben stehen müssen!«
West war so schon groß genug, aber wenn er neben
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