Die Räuberbraut
Tony stand, wirkte er noch größer. Er war nicht solide genug gebaut, um als Riese bezeichnet zu werden; er war vielmehr schlaksig, er wirkte wie nur lose aufgefädelt. Seine Arme und Beine schienen nur provisorisch am Rest seines Körpers befestigt zu sein, und seine Hände und Füße wirkten größer, als sie es in Wirklichkeit waren, weil seine Ärmel und seine Hosenbeine immer ein paar Zentimeter zu kurz waren. Er sah auf eine eckige, gestreckte Art gut aus, wie ein mittelalterlicher Steinheiliger, oder wie ein normal gutaussehender Mann, der wie ein Stück Gummi in die Länge gezogen worden war.
Er hatte damals zottelige blonde Haare und trug dunkle, schäbige Sachen – einen ausgefransten Rollkragenpullover, schmuddelige Jeans. Das war für die damalige Zeit ungewöhnlich: die meisten männlichen Studenten trugen immer noch Krawatten, oder wenigstens Jacketts. Seine Kleider waren ein Ausdruck seiner Randexistenz, sie verliehen ihm den Glanz eines Gesetzlosen. Wenn Tony und West nach ihrer Vorlesung über Geschichte der Neuzeit in einem der Studentencafes saßen, die sie frequentierten, und ihren Kaffee tranken, starrten die Mädchen West an. Dann wanderte ihr Blick nach unten, und sie entdeckten Tony mit ihrem kindlichen Pagenschnitt, ihrer Hornbrille, ihren kiltartigen Faltenröcken und ihren Mokassin-Slippern. Und waren verwundert.
Kaffeetrinken war so ungefähr alles, was Tony mit West machte. Während sie ihren Kaffee tranken, redeten sie; obwohl keiner von ihnen das war, was man als redselig bezeichnen würde. Der größte Teil ihrer Unterhaltung bestand aus einem behaglichem Schweigen. Manchmal tranken sie Bier, in verschiedenen, dunklen Bierkneipen, oder vielmehr, West trank Bier. Tony saß auf der Kante ihres Stuhls, wobei ihre Zehen aber trotzdem kaum den Boden berührten, leckte den Schaum von ihrem Glas und erforschte ihn nachdenklich mit ihrer Zunge, wie eine Katze. Dann trank West den Rest ihres Biers und bestellte noch zwei. Vier war sein Limit. Zu Tonys Erleichterung trank er nie mehr. Es war überraschend, daß die Bierkneipen Tony einließen, wo sie doch so absolut minderjährig aussah. Sie war minderjährig. Wahrscheinlich nahmen sie an, daß sie es bei ihrem Aussehen nie im Leben wagen würde, den Fuß in diese Lokale zu setzen, wenn sie nicht tatsächlich schon zweiundzwanzig wäre. Aber sie war als sie selbst verkleidet, eine der erfolgreichsten Verkleidungen. Wenn sie versucht hätte, älter auszusehen, hätte es nicht funktioniert.
West sagte, es gebe niemanden, der bessere Geschichtsnotizen mache als Tony. Es gab ihr das Gefühl, nützlich zu sein – besser noch, unersetzlich. Gepriesen.
West hatte Geschichte der Neuzeit belegt – wobei es sich keineswegs um die Geschichte der Neuzeit handelte, der Titel besagte nur, daß es nicht um die Antike ging, die mit dem Untergang Roms endete –, weil er sich für Folksongs und Balladen und antike Musikinstrumente interessierte. Er spielte Laute, behauptete er wenigstens. Tony hatte seine Laute nie gesehen. Sie war noch nie in seinem Zimmer gewesen, falls er tatsächlich in einem Zimmer lebte. Sie wußte nicht, wo er lebte, oder was er an den Abenden machte. Sie redete sich selbst ein, daß es sie nicht interessierte: ihre Freundschaft war eine Nachmittagsfreundschaft.
Mit der Zeit fing sie jedoch an, über den Rest seines Lebens nachzudenken. Sie ertappte sich dabei, daß sie sich fragte, was er zu Abend aß, oder zum Frühstück. Sie vermutete, daß er mit anderen Männern zusammenlebte, oder Jungs, weil er ihr erzählt hatte, er kenne einen Typ, der seine Fürze anzünden könne. Er hatte diese Geschichte nicht mit einem Kichern erzählt, sondern irgendwie bedauernd. »Stell dir vor, so was würde auf deinem Grabstein stehen«, sagte er. Tony erkannte das Fürze-Anzünden als eine Variante der etwas gesitteteren Kunststücke, die in der McClung Hall an der Tagesordnung waren, mit den Eiern und den Lippenstiftgesichtern, und schloß auf ein Studentenwohnheim. Aber sie fragte nicht.
Wenn West auftauchte, sagte er Hi. Wenn er verschwand, sagte er Bis bald. Tony wußte nie, wann das eine oder andere passieren würde.
Auf diese Weise wurde es November. Tony und West saßen in einer Bierkneipe namens Montgomery’s Inn – genannt nach einem der Scharmützel der 1837er Rebellion in Ober-Kanada – einer Schlacht, die Tonys Meinung nach anders hätte ausgehen müssen, aber durch Dummheit und Panik verloren worden war. Tony leckte wie
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