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Die Räuberbraut

Die Räuberbraut

Titel: Die Räuberbraut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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vorherigen Leben hatte sie nicht viel für Selbstenthüllung übrig. Wem hätte sie auch etwas erzählen können? Sie hat keine Ahnung, was alles hervorgesprudelt kommen wird, wenn sie das nächste Mal den Mund aufmacht.
    »Mach weiter«, sagt Zenia noch einmal und beugt sich vor, über den braungesprenkelten Tisch, die halbleeren Tassen, die Kippen in dem braunen Metallaschenbecher. Und Tony tut es.

21
    Sie erzählt von ihrer Mutter. Es ist das erste Mal, daß Tony mehr über ihre Mutter erzählt, mehr als die nackten Fakten. Verloren und fort, sagt Tony, und Tut mir leid, sagen alle anderen. Warum mehr sagen? Wen interessiert das schon?
    Zenia, wie es scheint. Sie weiß, daß es ein für Tony schmerzliches Thema ist, aber das schreckt sie nicht; falls überhaupt, spornt es sie eher noch an. Sie drängt und bohrt und gibt die richtigen Geräusche von sich, neugierig und erstaunt, entsetzt, nachsichtig und rücksichtslos, und kehrt Tony von innen nach außen wie eine Socke.
    Das Ganze braucht Zeit, weil Tony kein eindeutiges, klares Bild von ihrer Mutter hat. Die Erinnerung an sie ist zusammengesetzt aus schimmernden Einzelteilen, wie ein demoliertes Mosaik, oder wie etwas Sprödes, das auf den Boden gefallen ist. Hin und wieder holt Tony die Teile hervor und ordnet und sortiert und arrangiert sie und versucht, sie zu einem Ganzen zusammenzufügen. (Obwohl sie noch nicht sehr viel Zeit darauf verwendet hat. Die Zerstörung ist noch zu frisch.)
    Daher ist alles, was Zenia aus ihr herausholt, eine Handvoll Scherben. Wieso möchte sie so etwas haben? Das weiß nur Zenia allein, und Tony wird es herausfinden müssen. Aber im verzückten und redseligen Jetzt kommt Tony nicht einmal auf die Idee, sie zu fragen.
     
    Tony wurde früh hart gemacht. Es ist ein Ausdruck, den sie heute verwendet, voller Bedauern, in ihrem Keller, um drei Uhr morgens, während die kläglichen Überreste der Nelkenarmee Ottos II. verstreut im Sandkasten hinter ihr herumliegen und West oben den Schlaf der Ungerechten schläft und Zenia ungehemmt und ungehindert irgendwo draußen in der Stadt herumwütet. »Hart gemacht« ist ein Ausdruck, den sie von Charis übernommen hat, die erklärt hat, daß man eben das mit Setzlingen tut, um sie gegen Krankheiten und Frost abzuhärten, und damit sie sich besser verpflanzen lassen: man gibt ihnen einfach kaum Wasser und läßt sie draußen in der Kälte stehen. Genau das wurde auch mit Tony gemacht. Sie war eine Frühgeburt, wie ihre Mutter immer wieder gern erzählte, und wurde zuerst in einem Glaskasten aufbewahrt. (Lag eine Spur von Bedauern in der Stimme ihrer Mutter, als sei es schade, daß sie irgendwann herausgeholt wurde?) Und so verbrachte Tony ihre ersten Tage mutterlos. Woran sich – auf lange Sicht gesehen – nicht viel änderte.
    Zum Beispiel:
    Als Tony fünf war, beschloß ihre Mutter, mit ihr rodeln zu gehen. Tony wußte, was Rodeln war, obwohl sie es noch nie gemacht hatte.
    Ihre Mutter hatte nur eine vage Vorstellung davon, die sie von Weihnachtskarten abgeguckt hatte. Rodeln gehörte zu ihren romantischen, englischen Vorstellungen von Kanada.
    Woher hatte sie den Rodelschlitten? Wahrscheinlich geliehen, von einer ihrer Freundinnen aus dem Bridge-Club. Sie stopfte Tony in ihren Schneeanzug und verfrachtete sie und sich mit einem Taxi zum Rodelberg. Es war ein kleiner Rodelschlitten, er paßte auf den Rücksitz des Taxis, schräg gestellt, zusammen mit Tony. Ihre Mutter saß vorn. Tonys Vater hatte an diesem Tag das Auto, wie an den meisten Tagen. Das war ganz gut so, weil die Straßen vereist waren und Tonys Mutter eine, im besten Fall, spontane Fahrerin war.
    Als sie den Rodelberg erreichten, stand die Sonne tief und riesig und blaßrosa am grauen Winterhimmel, und die Schatten waren bläulich. Der Rodelberg war sehr hoch. Er lag an der Flanke einer Schlucht, und der Schnee war festgetreten und vereist. Gruppen kreischender Kinder und ein paar vereinzelte Erwachsene sausten auf Schlitten oder großen Pappkartonstücken hinunter. Ein paar waren umgekippt und hatten sich ineinander verknäult. Die Fahrer, die das untere Ende der Bahn erreichten, verschwanden hinter einer Gruppe dunkler Fichten.
    Tonys Mutter stand oben auf dem Hügel, starrte hinunter und hielt den Rodelschlitten an seinem Seil fest, als wolle sie ihn zurückhalten. »Na also«, sagte sie, »ist das nicht schön?« Sie preßte die Lippen zusammen, so wie sie es immer tat, nachdem sie Lippenstift aufgelegt hatte, und Tony

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