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Die Räuberbraut

Die Räuberbraut

Titel: Die Räuberbraut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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derartige Verhöre. Meistens basieren sie auf ziemlich haarsträubenden Drehbüchern: was wär, wenn du beim Untergang der Titanic dabei wärst? Würdest du alle anderen aus dem Weg rempeln, oder würdest du beiseite treten und in aller Höflichkeit ertrinken? Was wär, wenn du am Verhungern wärst, in einem offenen Boot, und einer der anderen würde sterben? Würdest du ihn essen? Und falls ja, würdest du die anderen über Bord schubsen, damit du ihn für dich allein behalten könntest? Sie scheint sich ihrer eigenen Antworten ziemlich sicher zu sein, auch wenn sie sie nicht immer verrät.
    Trotz der gewichtlosen Leichen, die in ihrem Kopf herumspuken, trotz der Reißbrett-Kriege und der Ströme von Blut, mit denen sie sich jeden Tag beschäftigt, merkt Tony, daß diese Fragen sie erschrecken. Sie stellen keine abstrakten Probleme dar – dafür sind sie zu persönlich – und es gibt keine korrekten Lösungen für sie. Aber es wäre ein taktischer Fehler, sich ihre Bestürzung anmerken zu lassen. »Das kann man nie wissen, findest du nicht?« sagt sie. »Bis es tatsächlich passiert.«
    »Zugegeben«, sagt Zenia. »Also gut, was wär für dich ein Grund, jemanden umzubringen?«
     
    Tony und Zenia trinken Kaffee, wie sie es seit einem Monat, seit sie sich kennengelernt haben, fast jeden dritten Tag tun. Das heißt, nicht jeden dritten Tag, jeden dritten Abend: im Augenblick ist es elf Uhr, normalerweise geht Tony um diese Zeit ins Bett, aber sie sitzt hier, immer noch wach. Sie ist nicht mal müde.
    Sie sitzen auch nicht in einem der harmlosen Campus-Cafés; sie sitzen in einer Mischung aus Café und Kneipe in der Nähe von Zenias neuer Wohnung. Zenias und Wests neuer Wohnung. Einer Klitsche, sagt Zenia. Der Laden heißt Christie’s und hat die ganze Nacht geöffnet. Im Augenblick sind drei Männer da, zwei von ihnen in Trenchcoats, einer in einer schmierigen Tweedjacke, zum Ausnüchtern, sagt Zenia; und zwei Frauen, die in einer der Nischen sitzen und sich leise unterhalten.
    Zenia sagt, daß diese Frauen Prostituierte sind; Prossies, sagt sie. Sie sagt, sie sieht es ihnen immer an. Für Tony sehen sie nicht wie besonders attraktives sexuelles Material aus; sie sind nicht mehr jung, ihre Gesichter sind mit Make-up zugekleistert, und sie haben Frisuren wie aus den vierziger Jahren, schulterlang, steif vor Haarspray und mit einem Seitenscheitel, durch den die weiße Kopfhaut hindurchschimmert. Die eine hat einen ihrer Fersenriemchenschuhe ausgezogen und läßt ihren nylonbestrumpften Fuß in den Gang hängen. Der ganze Laden mit seinem schmutzig-beigen Linoleumboden und seiner nicht funktionierenden Musikbox und seinen dicken, schartigen Kaffeetassen hat etwas Heruntergekommenes, eine verwegene Schäbigkeit, die Tony abstößt, gleichzeitig aber auch zutiefst fasziniert.
    Sie meldet sich für immer spätere Zeiten aus der McClung Hall ab. Sie sagt, daß sie hilft, die Kulissen für eine Theateraufführung zu malen: Die Troerinnen. Zenia hat die Helena einstudiert, spielt jetzt aber die Andromache. »All dieses Wehklagen«, sagt sie. »Dieses weibliche Gejammer. Ich hasse es, wirklich.« Sie sagt, früher wollte sie unbedingt Schauspielerin werden, aber jetzt nicht mehr. »Diese Scheiß-Regisseure denken, sie sind Gott«, sagt sie. »Und du selbst bist nur Hundefutter, ihrer Meinung nach. Und wie sie einen vollsabbern und abtatschen!« Sie spielt mit dem Gedanken, die Schauspielerei ganz hinzuschmeißen.
    Vollsabbern und Abtatschen sind für Tony völlig neue Begriffe. Sie wurde nie vollgesabbert oder abgetatscht. Sie wüßte gerne, wie so etwas vor sich geht, verkneift sich die Frage jedoch.
    Manchmal malt sie tatsächlich Kulissen. Nicht, daß sie besonderes Geschick dafür hätte – sie hat noch nie im Leben etwas gemalt –, aber die anderen drücken ihr Pinsel und Farbe in die Hand und zeigen ihr, wo sie anfangen soll, und sie trägt die Grundierung auf. Hinterher sind ihr Gesicht und ihre Haare und das Männerhemd, das sie ihr gegeben haben und das ihr bis auf die Knie reicht, voller Farbe. Sie fühlt sich wie getauft.
    Von den anderen – den dünnen, hochnäsigen Frauen mit den glatten Haaren, den ironischen Männern mit den schwarzen Pullovern – wird sie fast akzeptiert, was natürlich Zenias Werk ist. Aus irgendeinem Grund, den diese Leute sich nicht erklären können, sind Zenia und Tony im Augenblick ein Herz und eine Seele. Den Mädchen im Wohnheim ist es auch schon aufgefallen. Sie nennen Tony

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