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Die Räuberbraut

Die Räuberbraut

Titel: Die Räuberbraut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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sah, daß die Szene, die vor ihr lag, nicht das war, was sie sich vorgestellt hatte. Sie trug ihren Stadtmantel und ihren Hut, und Nylonstrümpfe, und kleine Stiefelchen mit hohen Absätzen und Pelzbesatz. Anders als die anderen Erwachsenen hatte sie keine lange Hose oder einen Skianzug oder eine Holzfällerjacke oder Ohrwärmer an, und plötzlich wußte Tony, daß ihre Mutter erwartete, daß sie den Hügel ganz allein hinunterrodelte.
    Tony mußte dringend aufs Klo. Sie wußte, wie kompliziert das sein würde, da sie ihren dicken, zweiteiligen Schneeanzug mit den Elastikträgern über den Schultern anhatte, und wieviel Umstände es ihrer Mutter machen würde – weit und breit war keine Toilette in Sicht –, also sagte sie nichts. Statt dessen sagte sie: »Ich will nicht.«
    Sie wußte, daß sie sich überschlagen würde, wenn sie diesen Hügel hinunterfuhr, sie würde in irgendwas hineinrasen, sie würde zerschmettert liegenbleiben. Ein kleines Kind wurde heulend und mit blutender Nase den Hügel hinaufgeführt.
    Tonys Mutter haßte es, wenn ihre Szenarien zunichte gemacht wurden. Die Leute sollten sich gefälligst amüsieren, wenn sie es wollte. »Stell dich nicht so an« , sagte sie. »Ich geb dir einen Schubs. Es wird herrlich sein.«
    Tony setzte sich auf den Boden, was ihre übliche Form des Protests war. Weinen funktionierte nicht, nicht bei ihrer Mutter. Es trug ihr höchstens eine Ohrfeige ein, oder im besten Fall ein Schütteln. Sie hatte nie viel geweint.
    Ihre Mutter sah sie angewidert an. »Ich zeig dir, wie es geht«, sagte sie. Ihre Augen blitzten, ihre Zähne waren zusammengebissen; es war der Ausdruck, den sie immer aufsetzte, wenn sie sich selbst dazu zwang, tapfer zu sein, wenn sie sich weigerte, sich eine Niederlage einzugestehen. Und ehe Tony wußte, was los war, hatte ihre Mutter den Rodelschlitten genommen und lief mit ihm zum Rand des Abhangs. Dort ließ sie den Schlitten fallen, warf sich auf ihn und raste den Hang hinunter, flach auf dem Bauch, die beigen Beine in den Nylonstrümpfen und den pelzbesetzten Stiefelchen steif nach hinten gestreckt. Fast sofort flog ihr Hut weg.
    Sie fuhr mit erstaunlicher Geschwindigkeit. Als sie immer kleiner werdend den Hügel hinunter und in der Dämmerung verschwand, rappelte Tony sich auf. Ihre Mutter ging von ihr fort, ihre Mutter verschwand, und Tony würde ganz allein auf dem kalten Hügel Zurückbleiben.
    »Nein! Nein!« schrie sie. [Ungewöhnlich für sie zu schreien: sie muß panische Angst gehabt haben.) Aber in ihrem Inneren konnte sie eine andere Stimme hören, die auch ihr gehörte, die auch schrie, furchtlos und mit inbrünstiger Begeisterung:
    Ja!Ja!
     
    Als Kind führte Tony Tagebuch. Jeden Januar schrieb sie vorne ihren Namen hinein, in großen Druckbuchstaben:
    TONY FREMONT.
    Darunter schrieb sie ihren anderen Namen:
    TNOMERF YNOT.
     
     
     
    Der Name hatte einen russischen Klang, oder einen, der zu einem Marsbewohner paßte, und das gefiel ihr. Es war der Name eines Außerirdischen, oder eines Spions. Manchmal war es auch der Name eines Zwillings, eines unsichtbaren Zwillings; und als Tony erwachsen war und mehr über Linkshändigkeit wußte, sah sie sich mit der Möglichkeit konfrontiert, daß sie vielleicht tatsächlich ein Zwilling gewesen war, die linkshändige Hälfte eines geteilten Eis, dessen andere Hälfte gestorben war. Aber als sie klein war, war ihr Zwilling nur eine Erfindung, die Personifizierung ihres Gefühls, daß ein Teil von ihr fehlte. Obwohl Tnomerf Ynot Tonys Zwilling war, war sie größer als Tony selbst. Größer, stärker, wagemutiger.
    Tony schrieb ihren äußeren Namen mit der rechten Hand, und ihren anderen Namen, ihren inneren Namen, mit der linken; obwohl es ihr offiziell verboten war, mit der linken Hand zu schreiben oder sonst etwas Wichtiges damit zu tun. Niemand hatte ihr den Grund dafür erklärt. Was einer Erklärung noch am nächsten kam, war eine Ansprache Antheas – ihrer Mutter –, in der sie sagte, die Welt sei nicht für Linkshänder geschaffen. Sie sagte auch, daß Tony das besser verstehen würde, wenn sie erst erwachsen wäre, aber das war bloß eine weitere von Antheas Beteuerungen, die sich nie bewahrheiteten.
    Als Tony klein war, schlugen die Lehrer in der Schule sie auf die linke Hand, mit der Hand oder mit dem Lineal, als wäre sie dabei erwischt worden, wie sie damit in der Nase bohrte. Ein Lehrer band ihr die linke Hand sogar an der Seite des Pults fest. Die anderen Kinder hätten

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