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Die Räuberbraut

Die Räuberbraut

Titel: Die Räuberbraut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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sie deswegen aufziehen können, taten es aber nicht. Sie verstanden die Logik des Ganzen genausowenig wie Tony selbst.
    Aus dieser Schule wurde Tony übrigens sehr schnell wieder herausgenommen. Normalerweise dauerte es acht oder mehr Monate, bis Anthea von einer Schule genug hatte. Es stimmte, daß Tony in Rechtschreibung nicht besonders gut war, jedenfalls nicht, wenn man den Lehrern glauben wollte. Sie sagten, sie verdrehe die Buchstaben. Sie sagten, sie habe Probleme mit Zahlen. Sie sagten dies zu Anthea, und Anthea sagte, Tony sei hochbegabt, und dann wußte Tony, daß es bald Zeit für einen Wechsel war, weil Anthea jetzt sehr bald die Geduld verlieren und anfangen würde, die Lehrer zu beschimpfen. Schwachköpfe gehörte noch zu den netteren Ausdrücken, mit denen sie sie belegte. Sie wollte, daß Tony verändert, in Ordnung gebracht, auf die Füße gestellt wurde, und sie wollte, daß es über Nacht passierte.
    Mit der linken Hand konnte Tony spielend viele Dinge tun, über die ihre rechte Hand beharrlich stolperte. In ihrem rechtshändigen Leben war sie ungeschickt, und ihre Schrift war klobig und schwerfällig. Aber das machte keinen Unterschied: trotz der guten Leistungen, die sie erbrachte, wurde ihre linke Hand verpönt, während die rechte bestochen und ermutigt wurde. Es war nicht fair, aber Anthea sagte, das Leben sei nun einmal nicht fair.
    Heimlich schrieb Tony trotzdem mit der linken Hand; aber sie hatte deswegen Schuldgefühle. Sie wußte, daß ihre linke Hand etwas Beschämendes an sich haben mußte, sonst würde man sie schließlich nicht so demütigen. Es war trotzdem die Hand, die sie am meisten liebte.
     
    Es ist November, es wird schon dunkel. Vor einer Weile hat es ein bißchen geschneit, aber jetzt regnet es. Der Regen läuft in eisigen, schlängeligen Rinnsalen über die Scheibe des Wohnzimmerfensters; ein paar braune Blätter kleben wie lederne Zungen an der Außenseite der Glasscheibe.
    Tony kniet auf dem Sofa, die Nase an das Fenster gepreßt, und haucht Nebelflecken auf die Scheibe. Wenn der Fleck groß genug ist, schreibt sie etwas, quietschend, mit ihrem Zeigefinger. Dann wischt sie das Wort wieder weg. Keif schreibt sie. Es ist ein Wort, das sogar für ihr Tagebuch zu schlimm ist. Eßiehcs. Sie schreibt diese Worte voller Angst und Ehrfurcht, aber auch mit abergläubischer Wonne. Es sind Tnomerf-Ynot-Worte. Sie geben ihr das Gefühl, Macht zu haben, Kontrolle.
    Sie haucht und schreibt und wischt, haucht und schreibt. Die Luft ist unfrisch, erfüllt vom trockenen, verbrannten Geruch der Chintzvorhänge. Während sie schreibt, lauscht sie auf die Stille des Hauses hinter sich. Sie ist an Stillen gewöhnt; sie kann zwischen erfüllten Stillen und leeren Stillen unterscheiden, zwischen Stillen, die vorher, und denen, die nachher kommen. Nur weil Stille herrscht, heißt das noch lange nicht, daß nichts passiert.
     
    Tony bleibt, solange sie es wagt, am Fenster knien. Schließlich sieht sie ihre Mutter mit schnellen Schritten von der Straßenecke zum Haus kommen, den Kopf zum Schutz vor dem Regen gesenkt, den Pelzkragen hochgeschlagen, das Gesicht unter dem kastanienroten Hut verborgen. Sie hat ein Päckchen bei sich.
    Wahrscheinlich ist es ein Kleid, denn Kleider sind ein Trost für Anthea; wenn sie »melancholisch« ist, wie sie es nennt, geht sie einkaufen. Tony wurde schon oft zu derartigen Expeditionen in die Stadt geschleppt, immer dann, wenn Anthea nicht wußte, wo sie sie sonst abstellen konnte. Sie hat vor Umkleidekabinen gewartet und in ihrem Wintermantel geschwitzt, während Anthea Sachen anprobierte, und dann noch mehr Sachen, und auf Strümpfen herauskam und vor dem bodenlangen Spiegel Pirouetten drehte und den Stoff über ihren Hüften glattstrich. Anthea kauft nicht oft Kleider für Tony; sie sagt, sie könnte Tony in einen Kartoffelsack stecken, und Tony würde es nicht einmal merken. Aber Tony merkt es durchaus, sie merkt eine Menge. Sie glaubt bloß nicht, daß es einen Unterschied machen würde, ob sie einen Kartoffelsack trägt oder nicht. Einen Unterschied für Anthea, heißt das.
    Tony steht vom Sofa auf und fängt mit ihren Klavierübungen an. Die Übungen sollen ihre rechte Hand kräftigen, obwohl alle, Tony eingeschlossen, genau wissen, daß Tony nicht musikalisch ist und diese Übungen nirgendwohin führen werden. Wie könnten sie auch? Tony mit ihren kleinen Mäusepfötchen kann nicht einmal eine Oktave greifen.
    Sie übt verbissen, versucht, mit dem

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