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Die Räuberbraut

Die Räuberbraut

Titel: Die Räuberbraut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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tickenden Metronom Schritt zu halten, starrt mit zusammengekniffenen Augen auf ihre Noten, weil sie vergessen hat, die Lampe auf dem Klavier anzuknipsen und sie, ohne es zu wissen, allmählich kurzsichtig wird. Das Stück, das sie spielt, nennt sich eine »Gavotte«. Ettovag. Es ist ein gutes Wort; sie wird sich später eine Verwendung dafür ausdenken. Das Klavier riecht nach Zitronenöl. Ethel, die zum Saubermachen kommt, wurde angewiesen, die Tasten nicht damit zu polieren – sie soll sie bloß mit einem feuchten Tuch abwischen – aber sie hält sich nicht daran, und Tonys Finger werden noch Stunden später nach Zitronenöl riechen. Es ist ein feierlicher Geruch, ein erwachsener Geruch, ein unheilvoller Geruch. Er kommt vor Parties.
    Sie hört, wie die Haustür geöffnet und geschlossen wird und spürt den kalten Luftzug an den Beinen. Ein paar Minuten später kommt ihre Mutter ins Wohnzimmer. Tony hört die hohen Absätze, die erst über den Hartholzboden klappern und dann vom Teppich gedämpft werden. Sie spielt weiter, haut in die Tasten, um ihrer Mutter zu zeigen, wie eifrig sie ist.
    »Das reicht für heute, meinst du nicht auch?« sagt ihre Mutter aufgekratzt. Tony weiß nicht, was sie davon halten soll: normalerweise will Anthea, daß sie so lange wie möglich übt. Sie will sie beschäftigt wissen, irgendwo, wo sie ihr nicht im Weg ist.
    Tony hört auf zu spielen und dreht sich um, um ihre Mutter anzusehen. Sie hat ihren Mantel ausgezogen, trägt aber immer noch ihren Hut und, merkwürdigerweise, auch die dazu passenden, kastanienroten Handschuhe. Der Hut hat einen getüpfelten Halbschleier, der ihre Augen und einen Teil ihrer Nase verdeckt. Unter dem Schleier befindet sich ihr Mund, an den Rändern leicht verwischt, als sei ihr Lippenstift im Regen verlaufen. Sie hebt die Hände hinter den Kopf, um die Hutnadeln herauszuziehen.
    »Ich hab noch keine halbe Stunde geübt«, sagt Tony. Sie glaubt immer noch, daß die pflichtgetreue Erfüllung ihr gesetzter Aufgaben dazu führen wird, daß sie geliebt wird, obwohl sie in einer dunklen Ecke ihres Inneren weiß, daß das bis jetzt nicht funktioniert hat und wahrscheinlich nie funktionieren wird.
    Anthea läßt die Hände sinken, ohne den Hut abgenommen zu haben. »Findest du nicht, daß du heute eine kleine Verschnaufpause verdient hast?« sagt sie und lächelt Tony an. Ihre Zähne sehen in dem dämmrigen Zimmer sehr weiß aus.
    »Wieso?« fragt Tony. Sie wüßte nicht, was an diesem Tag so besonders sein sollte. Es ist nicht ihr Geburtstag. Anthea setzt sich neben sie auf die Klavierbank und legt den linken Arm mit der lederbehandschuhten Hand um Tonys Schultern. Sie drückt sie ein wenig an sich. »Armes kleines Ding«, sagt sie. Dann legt sie die Finger der anderen Hand unter Tonys Kinn und hebt ihr Gesicht hoch. Die lederne Hand ist leblos und kühl, wie die Hand einer Puppe.
    »Ich möchte, daß du weißt«, sagt sie, »daß Mutter dich wirklich und wahrhaftig liebt.«
    Tony zieht sich in sich selbst zurück. Anthea hat das schon öfter gesagt. Wenn sie es sagt, riecht ihr Atem immer so, wie er jetzt riecht, nach Rauch und nach den leeren Gläsern, die am Morgen nach einer Party und auch an anderen Morgen auf der Anrichte in der Küche stehen. Gläser mit aufgeweichten Zigarettenkippen, und kaputte Gläser auf dem Fußboden.
    Sie sagt nie: »Ich liebe dich wirklich und wahrhaftig.« Sie sagt immer Mutter , als wäre Mutter jemand anderes.
    Rettum, denkt Tony. Ebeil. Das Metronom tickt weiter.
    Anthea sieht auf sie herunter, hält sie mit ihren behandschuhten Händen fest. Im Halbdunkel wirken ihre Augen hinter den Tupfen des Schleiers rußig schwarz, bodenlos; ihr Mund zittert. Sie beugt sich vor und drückt ihre Wange an Tonys Wange, und Tony spürt das Kratzen des Schleiers und die feuchte, cremige Haut darunter, und riecht sie, riecht ihren Geruch nach Veilchen und Achselhöhle und Kleiderstoff, und einen salzigen, eierartigen Geruch, wie Mayonnaise, die einen Stich hat. Sie weiß nicht, wieso Anthea heute so ist, es macht sie verlegen. Normalerweise gibt Anthea ihr nur einen Gutenachtkuß, einen kleinen, flüchtigen Gutenachtkuß. Sie zittert am ganzen Leib, und einen Augenblick lang denkt – hofft – Tony, daß es vor Lachen ist.
    Dann läßt sie Tony los und steht auf und geht ans Fenster und bleibt mit dem Rücken zu Tony stehen und nimmt ihren Hut dieses Mal wirklich ab. Sie nimmt ihn ab und wirft ihn auf das Sofa und lockert die dunklen Haare

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