Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Räuberbraut

Die Räuberbraut

Titel: Die Räuberbraut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
Vom Netzwerk:
nicht mehr Tonikins, sie bieten ihr keine Kekse mehr an oder bitten sie, Oh my darling Clementine rückwärts zu singen. Sie haben sich zurückgezogen.
    Tony weiß nicht, ob es Abneigung oder Respekt ist; oder Angst, weil Zenia, wie es scheint, einen gewissen Ruf besitzt. Obwohl keines der Mädchen Zenia persönlich kennt, gehört sie zu den Menschen, die sichtbar sind – sichtbar für alle, bloß Tony hat sie bisher nie gesehen, weil sie einfach nicht hingesehen hat. Zum Teil liegt es an Zenias Erscheinung: Zenia ist die Verkörperung all dessen, wie häßlichere, kantigere Frauen gerne aussehen und auch sein würden: sie glauben, daß solche Dinge von außen nach innen bewirkt werden können. Außerdem gilt Zenia als hochintelligent und bekommt erstklassige Noten – obwohl sie sich kein Bein ausreißt, sie besucht nur selten eine Vorlesung, wie also macht sie das? Hochintelligent, und auch furchterregend. Wölfisch, raubtierhaft, jenseits der Grenzen.
    Tony hört das von Roz, die eines Morgens, als Tony arbeitet und versucht, die Zeit nachzuholen, die sie gestern abend verbummelt hat, in ihr Zimmer gestürmt kommt. Mutter Roz kommt gackernd und federnraschelnd angerauscht, um die kleine Tony, für die sie beschützerische Gefühle hegt, aufzuklären. Tony hört stumm zu, verhärtet die Augen, verschließt die Ohren. Sie will kein schlechtes Wort über Zenia hören. Eifersüchtige Gans, denkt sie. Snagegithcüsrefie.
    Sie hat jetzt auch andere Kleider, weil Zenia ihr ein neues Image verpaßt hat. Sie hat schwarze Cordjeans und einen Pullover mit einem riesigen Rollkragen, in dem ihr Kopf sitzt wie ein Ei in seinem Nest, und ein gigantisches grünes Umhängetuch. Es ist schließlich nicht so, daß du dir das nicht leisten kannst, sagt Zenia, die sie durch die Geschäfte schleppt. Der Pagenschnitt mit dem Haarband aus Samt ist verschwunden; statt dessen sind Tonys Haare kurz und zerzaust, mit ein paar kunstvoll herausgezupften Strähnen. An manchen Tagen findet Tony, daß sie ein bißchen wie Audrey Hepburn aussieht; an anderen wie ein Mop, der in die Steckdose geraten ist. Viel intellektueller, hat Zenia verkündet. Sie war es auch, die Tony dazu überredet hat, ihre normal große Hornbrille gegen eine größere, riesige, einzutauschen.
    »Aber die ist übertrieben«, sagte Tony. »Unproportioniert.«
    »Das ist Schönheit nun mal«, sagte Zenia. »Übertrieben. Unproportioniert. Wenn du darauf achtest, wirst du’s selbst sehen.«
    Das ist auch die Theorie, die hinter den überdimensionalen Pullovern steckt, den tischtuchähnlichen Schals: Tony, die in ihnen schwimmt, wirkt dadurch noch dürrer. »Ich seh aus wie ein Spazierstock«, sagt sie. »Ich seh aus wie zehn.«
    »Schlank«, sagt Zenia. »Jungenhaft. Manche Männer mögen das.«
    »Dann sind sie pervers«, sagt Tony.
    »Hör mir zu, Antonia«, sagt Zenia ernst. »Alle Männer sind pervers. Das solltest du nie vergessen.«
     
    Die Kellnerin kommt, Fettwülste unter dem Kinn, Stützstrumpfhose an den Beinen, klobige Schuhe an den Füßen, vorspringender, graubeschürzter, ketchupfleckiger Busen. Gelangweilt füllt sie ihre Kaffeetassen nach. »Sie ist auch eine«, sagt Zenia, als sie sich entfernt. »Eine Prossie, in ihrer Freizeit.«
    Tony mustert den dicken Rumpf, die trübselig hängenden Schultern, den zotteligen Knoten aus Haaren, die die Farbe toter Eichhörnchen haben. »Nein!« sagt sie. »Wer sollte denn mit der was anfangen wollen?«
    »Ich wette mit dir, um was du willst«, sagt Zenia. »Mach weiter.«
    Sie meint damit, daß Tony mit der Geschichte fortfahren soll, die sie gerade erzählt hat, aber Tony kann sich kaum erinnern, wo sie stehengeblieben ist. Diese Freundschaft mit Zenia ist sehr plötzlich gekommen. Sie hat das Gefühl, an einem Seil mitgeschleift zu werden, hinter einem immer schneller werdenden Motorboot, während die Wellen über ihr zusammenschlagen und Applaus in ihren Ohren dröhnt; oder als raste sie mit dem Fahrrad einen Berg hinunter, freihändig und ohne Bremsen. Sie hat die Kontrolle verloren; gleichzeitig ist sie ungewöhnlich wachsam, so als wären die kleinen Härchen an ihren Armen und in ihrem Nacken ständig gesträubt. Das hier sind gefährliche Gewässer. Aber wieso eigentlich? Sie unterhalten sich doch nur.
    Obwohl es Tony ganz schwindelig ist von diesem draufgängerischen Wortschatz. Noch nie hat sie einem einzigen Menschen soviel zugehört; und noch nie hat sie selbst so viel erzählt, so bedenkenlos. In ihrem

Weitere Kostenlose Bücher