Die Raffkes
sich kerzengerade auf und fragte empört: »Hat er dir gesagt, dass er gehen will?«
»Nein, Erna, nein. Wir haben noch telefoniert. So gegen sechs. Er war gut drauf, richtig fröhlich. Wir haben nur kurz geredet wegen meiner Protokolle, und er hat gesagt, er bekäme gleich Besuch.«
»Ja, er hatte mich gebeten, Tee für ihn und den Besucher zu kochen.«
»Du weißt nicht, wer es war?«
»Nein. Aber sie haben den Tee getrunken. In den Tassen waren noch Reste, als ich runterkam. Erich hat sie in die Küche getragen, die kleine Kanne war leer.«
»Hast du die Tassen schon ausgespült?«, fragte er schnell.
»Nein. Wieso? Ich kann doch nicht spülen, wenn Erich …«
»Schon gut«, murmelte Mann hastig. Er lief wieder in die Küche, die Tassen und die kleine Kanne standen auf einem Ablaufbrett neben dem Spülbecken. Mann riss Schubladen auf, um irgendetwas zu finden, in das er das Geschirr einwickeln konnte. Schließlich packte er jedes Stück einzeln in einen Gefrierbeutel und trug die drei Teile hinaus zu seinem Wagen.
Der Mann vom Verfassungsschutz stand immer noch hinter den geparkten Autos und beobachtete ihn, gelassen und stumm. Mann legte die Tüten in den Kofferraum. Dann ging er wieder zurück.
Erna Ziemann erschauerte, als wäre ihr kalt. »Das kann er doch nicht machen. Er kann doch mit mir reden. Er hätte doch mit mir reden können!« Ihr Gesicht verzog sich zu einer grotesken Maske und sie begann klagend zu weinen. Dabei schaukelte ihr Körper vor und zurück. Laut verfluchte sie ihren Erich.
Nur langsam beruhigte sie sich wieder und Mann nahm eine der Tabletten und das Wasserglas und bat sie, die Pille zu schlucken. Aber sie wollte nicht, sie begann wieder zu schreien, lauter und wütender noch als zuvor.
Plötzlich stand eine junge Frau in der Tür zum Flur und sagte zaghaft: »Die Wohnungstür war auf.«
»Kommen Sie nur herein«, nickte Mann. Ihre rechte Gesichtshälfte war blau und rot und das Auge zugeschwollen.
»Mein Gott, Erna!«, sagte sie und ließ sich auf die Knie neben dem Ledersessel nieder. »Das ist ja so furchtbar.«
»Sie muss eine Tablette nehmen«, beharrte Mann.
»Ach, das machen wir doch, was Erna?«, sagte die junge Frau zuversichtlich.
Endlich schluckte Erna Ziemann die Tablette und war ein paar Minuten lang still. Sie sah sich in dem Zimmer um, als habe sie es noch nie gesehen, und seufzte: »Ach, Corinna, Schätzchen. Dass ich dich habe.« Dann griff sie ein Papiertaschentuch und schnäuzte sich kräftig: »Kann mir jemand sagen, warum er das gemacht hat?«
»Niemand kann das«, murmelte Corinna. Sie sah Mann an. »Rauchen Sie?«
»Mein Tabak liegt in der Küche«, erklärte Erna sachlich.
»Drehen kann ich nicht, das weißt du doch«, sagte Corinna. Mann zündete eine Zigarette an und reichte sie der Frau über den Tisch.
»Er war so froh, Junge, dass er dich kennen gelernt hat.«
»Ja«, nickte Mann und fühlte sich elend.
Sie glitt zurück in ihr Meer aus Kummer, aber nun weinte sie leise, wiegte sich wieder vor und zurück. Irgendwann schlief sie ein und begann sogar zu schnarchen.
»Ich nehme an, das Medikament ist ein richtiger Hammer«, seufzte Mann.
»Das ist auch gut so«, nickte Corinna.
»Wie ist das eigentlich abgelaufen?«
»Erna kam so um halb sechs rauf zu mir und wir haben geredet. Ich hatte in der letzten Zeit Schwierigkeiten mit meinem Mann. Nun ist er weg … Erna und ich haben uns darüber unterhalten, ob ich mir einen Job besorgen soll und so. Sie erwähnte, dass Erich unten sei und Besuch habe. So gegen acht, glaube ich, sagte sie: Ich gehe eben runter und hole meinen Tabak. Dann ging sie und plötzlich hörte ich sie nur noch schreien. Das war so furchtbar, mein Gott! Ich bin sofort runtergerannt. Sie stand neben Erich und hat ihn geschüttelt. Und da war viel Blut und sie schrie, er soll aufstehen und nicht so einen Scheiß machen. Dann habe ich die Bullen gerufen.«
»Und kein Wort, dass Erich irgendwie deprimiert war oder dass das ein ganz besonderer Besucher war? Gefährlich vielleicht?«
»Wieso gefährlich? Nein, Erich hatte oft Besucher. Er arbeitete ja viel von zu Hause aus.«
»Also, der Besucher kommt. Sie trinken Tee, den Erna ihnen noch bereitet hat. Der Besucher geht und Erich schießt sich in den Kopf.«
»Ja, genau«, bestätigte Corinna ernsthaft, als sei das die einzig logische Abfolge der Ereignisse.
»Das ist völlig verrückt«, murmelte Mann.
»Hör mal, du musst nicht die ganze Zeit hier bleiben. Es ist halb fünf, die Nacht ist fast
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