Die Raffkes
auf. Erna Ziemann saß in einem uralten Ledersessel, ein Mann kniete vor ihr und hielt ihre Hand. Sie sprachen beide kein Wort.
Mann räusperte sich.
Erna Ziemann schlug die Augen auf und lächelte kurz, als sie ihn erkannte.
Der Arzt richtete sich auf und fragte leise: »Darf ich fragen, wer Sie sind?«
»Es ist gut.« Erna Ziemann streckte ihm ihre Hand entgegen und Mann ergriff sie, hielt sie fest und setzte sich auf die Sessellehne.
»Ich bin sofort gekommen«, sagte er hilflos.
»Ich habe ihr etwas zur Beruhigung gespritzt. Aber es wäre gut, wenn jemand bei ihr bliebe.«
»Kein Problem«, nickte Mann.
»Und jemand müsste zu einer Apotheke gehen. Ich habe da auf den Tisch ein Rezept hingelegt, das Medikament ist wichtig. Gibt es eigentlich Kinder?«
»Eine Tochter«, antwortete Erna Ziemann klar und deutlich. »Aber sie lebt in Amsterdam.«
»Ich hole das Medikament«, entschied Mann.
Im Flur erkundigte er sich bei einem Uniformierten, wo die nächste Apotheke sei.
»Sie meinen eine, die Nachtdienst hat? Wartense mal. Müsste auf der Oranienstraße sein.«
Mann wollte sich beeilen und verfuhr sich prompt. Endlich fand er eine Apotheke mit Nachtdienst. Er schellte, das Licht im Verkaufsraum ging an, eine junge, verschlafene Frau kam und öffnete eine winzige Luke in der Tür. Mann gab ihr das Rezept. Sie betrachtete es gründlich, als könne sie nicht lesen, und trödelte, öffnete verschiedene Schubladen, sah wieder auf das Rezept, entschied sich für ein Regal, nahm eine weiße Packung und brachte sie ihm. Er bezahlte und machte sich auf den Rückweg.
Vor Ziemanns Haus sah er den Mann zum zweiten Mal. Er stand hinter einem geparkten Auto und starrte auf das Gebäude, als würde es ihm etwas erzählen. Er bewegte sich kaum, sein schmaler Körper wiegte sich leicht vor und zurück und er trug wieder diesen verschlissen aussehenden Trenchcoat.
Mann überlegte nicht lang, sondern ging strikt auf ihn zu: »Ich möchte wissen, wie Sie heißen.«
»Mein Name ist Brauer, Gisbert Brauer. Verfassungsschutz.« Er hatte eine weiche, angenehme Stimme.
»Und warum sind Sie hier?«
»Weil man mir sagte, dass Erich Ziemann sich erschossen hat.«
»Wer, zum Teufel, ist ›man‹?«
»Jeder, Herr Mann. Zum Bespiel die Junge Welt . Gutes Blatt, die Redaktion hat keine Angst. Die haben den toten Erich Ziemann schon im Internet.«
»Aber, warum stehen Sie hier, warum gehen Sie nicht einfach herein und reden mit den Kollegen?«
»Ich bin sozusagen eine beobachtende Behörde, eine begleitende Institution. Und – ich will Sie nicht von der Arbeit abhalten.«
»Das ist keine Arbeit, es ist …«
»Es ist ziemlich übel, ich weiß das. Kümmern Sie sich nicht um mich, ich werde nicht stören.«
Mann nickte verwirrt und wandte sich zum Eingang des Hauses. Zwei Männer kamen ihm mit einer Blechwanne zwischen sich entgegen.
In der Wohnung befand sich nun nur noch der Arzt. Er lächelte auf Erna Ziemann herunter. »Ich muss jetzt auch weg«, sagte er. »Sie sollten so schnell wie möglich Ihren Hausarzt konsultieren.«
»Ja, ja«, murmelte sie.
»Wie oft?«, fragte Mann und hielt das Medikament hoch.
»Alle zwei Stunden eine.« Der Mediziner packte seine Tasche zusammen und verließ mit einem freundlichen Kopfnicken den Raum.
»Ist Erich …?«, fragte sie. Ihr Gesicht war weiß und teigig.
»Sie haben ihn hinausgebracht«, nickte Mann. Er setzte sich auf das Sofa ihr gegenüber.
»Von wem hast du es erfahren?«, fragte sie.
»Kolthoff.«
»Ah, ja.« Sie griff nach dem kleinen Kissen neben sich und legte es sich auf den Schoß. »Ich fühle mich wie betrunken. Das ist nicht gut. Das sind diese Spritzen, die sie den alten Leuten geben, wenn die ausflippen.«
»Soll ich deine Tochter anrufen?«
»Das hat schon jemand getan. Sie hat gesagt, sie fährt gleich los. Sie wird gegen Mittag hier sein, denke ich.«
»Möchtest du etwas trinken? Wasser, Kaffee oder Tee? Sag mir, was du willst.«
»Wasser. Ich habe einen ganz trockenen Mund. Das kommt bestimmt auch von diesen ekelhaften Spritzen.«
Mann stand auf und ging in die Küche. Im Kühlschrank fand er eine Flasche Wasser. Er goss ein Glas voll und brachte es Erna. »Möchtest du auch etwas essen?«
»Nein … Ich kam rein, ich war oben bei der jungen Frau, der mit dem Trinker«, sie sprach zu sich selbst, sie erzählte sich selbst die Geschichte, »ich kam rein und sah ihn da am Schreibtisch. Und ich dachte, er ist eingeschlafen. Aber er war nicht eingeschlafen.« Plötzlich richtete sie
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