Die Ranch
Sohnes an, als wollte sie ihn fragen, warum es geschehen war.
Doch sie wusste es nur zu gut. Das Mädchen, das er vier Jahre lang geliebt hatte, war vier Monate zuvor bei einem Autounfall gestorben, auf einer vereisten Straße in New Jersey. Danach versank Todd in immer tieferen Depressionen, was niemand bemerkte. Zu Ostern hatte seine Familie geglaubt, er wäre über den schweren Verlust hinweggekommen. Jetzt erkannte Mary Stuart, warum er damals so ruhig gewirkt hatte, fast glücklich – weil er entschlossen gewesen war, sich nach den Ferien das Leben zu nehmen. So nahe hatte er seiner Mutter in jenen Tagen gestanden. Sie gingen im Park spazieren, führten philosophische Gespräche und lachten, und er schmiedete sogar vage Zukunftspläne. Eindringlich versicherte er ihr, er würde immer glücklich sein. Nach Princeton zurückgekehrt, beging er in seinem Zimmer Selbstmord, zwei Wochen vor seinem zwanzigsten Geburtstag. Der Junge, der nebenan wohnte, fand ihn. Er kam in Todds Zimmer, um sich ein Buch auszuleihen, und sah ihn auf dem Bett liegen. Irgendetwas erregte seinen Verdacht. Bis zur Ankunft der Polizei und des Notarztes versuchte er, seinen Freund mit Mund-zu-Mund-Beatmung zu retten. Aber der Arzt erklärte später, Todd sei schon seit mehreren Stunden tot gewesen. In seinem Abschiedsbrief hatte er erklärt, er habe seinen inneren Frieden wieder gefunden, fühle sich ruhig und endlich glücklich. Er würde wissen, dass er einen feigen Ausweg wählte, und den Kummer bedauern, den er seiner Familie und seinen Freunden bereite, aber er könne nicht ohne Natalie leben. Das habe er lange genug versucht. Er hoffe, alle würden ihm verzeihen und verstehen, dass er nun für immer mit Natalie vereint sei. Obwohl seine Eltern meinten, die beiden wären zu jung, hatte er beabsichtigt, das Mädchen im nächsten Sommer nach seinem Studienabschluss zu heiraten. In gewissem Sinn sei er jetzt mit ihr verheiratet, lautete die letzte Zeile seines Briefs.
Nachdem Bill und Mary Stuart die traurige Nachricht erhalten hatten, gab er ihr sofort die Schuld. Er behauptete, sie habe Todd romantische Flausen in den Kopf gesetzt und ihm vier Jahre lang eine viel zu enge Beziehung zu Natalie erlaubt. Hätte sie ihn nicht mit ihren religiösen Ideen infiziert, wäre er niemals auf den absurden Gedanken gekommen, es gebe ein Leben nach dem Tod. Er warf ihr vor, sie habe den Jungen in den Selbstmord getrieben, und das brachte sie fast um. Noch schlimmer war der Verlust ihres einzigen Sohnes, ihres Erstgeborenen, der sie stets mit Stolz und Freude erfüllt hatte.
Während Tanya ihr zuhörte, wäre sie am liebsten zu Bill gelaufen, um ihn zu schütteln. Welch eine verrückte Anklage … Offenbar versuchte er, seinen eigenen Schmerz zu lindern und die Erkenntnis seines Fehlschlags zu verdrängen, indem er Mary Stuart die alleinige Schuld gab. Das war grausam und unerträglich – und was er seiner Frau damit antat, zeigten die deutlichen Spuren in ihrem Gesicht. In ihrem Innern hatte sie tausend qualvolle Tode erlitten.
»Der arme Junge …« Schluchzend saß Mary Stuart auf seinem Bett. »Er liebte Natalie so sehr. Als er von ihrem verhängnisvollen Unfall erfuhr, fürchtete ich, es würde ihn umbringen.« Und letzten Endes hatte ihn jene Tragödie getötet und gewissermaßen auch seine Eltern. Von Mary Stuart oder Bill oder ihrer Ehe blieb nichts übrig. Ihre Herzen, ihre Seelen und ihre Träume waren mit dem geliebten Jungen gestorben.
»Warst du ihm niemals böse?«, fragte Tanya, und Mary Stuart starrte sie verwirrt an.
»Meinem Sohn? Wie könnte ich?«
»Weil er euch allen wehtat. Weil er euch so viel wegnahm. Weil er wie ein Feigling die Flucht ergriff, statt mutig zu sein und weiterzuleben. Und er hätte dir gestehen müssen, wie verzweifelt er war.«
»Nein – ich hätte es merken müssen.«
»Alles kannst du nicht wissen. Du bist keine Hellseherin, sondern ein normales menschliches Wesen. Und du warst eine wundervolle Mutter. Das hätte er dir nicht antun dürfen.« Solche Gedanken hatte sich Mary Stuart nie gestattet, und dass sie plötzlich ausgesprochen wurden, erschreckte sie. »Es war unfair von ihm. Und Bills Beschuldigung ist genauso unfair. Vielleicht solltest du die beiden endlich anklagen, die dir so viel zugemutet haben.«
Nach einem langen Schweigen schaute Mary Stuart zu Tanya auf. »Seit der Nacht seines Todes fühle ich mich schuldig.«
»Das weiß ich. Aber Todd trug ganz allein die Verantwortung für
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