Die Rastlosen (German Edition)
stehen. »Ich kann dir nur empfehlen«, meinte er, »dich mal mit unserem Gewerkschaftsvertreter zu unterhalten. Er wird dir schon sagen, ob das nur eine Wahnvorstellung ist. Hör ihm gut zu. Das könnte ein aufschlussreiches Gespräch werden.« Sie ließ ihre Hose auf den Boden gleiten und schlüpfte in einen Rock. »Skrupel werden die jedenfalls keine haben«, sagte er geistesabwesend.
*
Sie hatte Barbaras Vater vor sechs Monaten geheiratet, also ungefähr Mitte September. Sie hatten gemeinsam Weihnachten gefeiert, dann war er nach Afghanistan aufgebrochen und ließ nur selten etwas von sich hören. Es war nicht eben leicht mit Barbara, erklärte sie, aber sie gaben sich beide Mühe, die Aussichten waren nicht allzu düster, jeden Tag trugen beide ein Quentchen zu ihrer häuslichen Gemeinschaft bei.
»Ich verstehe sehr gut, worauf Sie hinauswollen, Myriam«, sagte er mit Nachdruck. »Ich kann mir sehr gut vorstellen, was Sie empfinden. Was für eine ungeheure Niedergeschlagenheit.« Diesmal war die Cafeteria rappelvoll und brummte wie ein Bienenstock. »Wie dem auch sei, ich muss Ihnen etwas sagen«, fuhr er fort, »ich muss Ihnen sagen, dass sie bestimmt eine hervorragende Schriftstellerin geworden wäre, davon bin ich überzeugt, das sage ich Ihnen ganz ehrlich, das war ich Ihnen schuldig. Wirklich schade darum.«
Normalerweise ließ er sich nicht zu solchen Lobeshymnen hinreißen, wenn es um seine Studenten ging – man hatte ja fast nie Gelegenheit dazu und vergaß schließlich, dass man sich auch mal positiv äußern konnte –, aber die arme Frau schien begierig nach Trost, und Barbara hatte tatsächlich gezeigt, dass sie das Zeug zu einer Schriftstellerin hatte. Zu einer ziemlich guten Schriftstellerin. »Ich sage das nicht nur, um Ihnen eine Freude zu machen«, fügte er hinzu und berührte wieder ihr Handgelenk. »Ich muss Ihnen das unbedingt ausdrucken. Sie werden sehen, wie gut das gemacht ist. Was für ein Potential sie hatte. Wie gut das aufgezogen war.«
Myriam wohnte in der Stadt, nicht weit vom See. Am nächsten Morgen fuhr er zu ihr und steckte ein etwa zwanzigseitiges Papierbündel in ihren Briefkasten – Barbaras letzte Arbeit in seinem Seminar. Von bemerkenswerter Qualität für eine so junge Frau. Über dem Gehweg trieben die ersten Blätter aus, auch an den Hortensien, und einige Pollen wirbelten schon durch die Luft. Diese Frau wäre etwa 2020 berühmt geworden, darauf hätte er gewettet, sie hätte keine zehn Jahre gebraucht, um ihre Blüte zu erreichen, vielleicht fünf oder sechs – ein guter Schriftsteller unter dreißig, das sind bis auf wenige Ausnahmen frei erfundene Geschichten, reines Wunschdenken, dreißig ist die allerunterste Grenze, das erklärte er seinen Studenten schon ganz zu Anfang, glauben Sie, man lernt an einem Tag oder auch nur in hundert, mit Worten zu spielen, glauben Sie, dass Ihnen vom Himmel eine Erleuchtung widerfährt, na gut, ich will ehrlich mit Ihnen sein, rechnen Sie mit zwanzig Jahren, es wird zwanzig Jahre dauern, bis Sie Ihre eigene Stimme gefunden haben, egal wie Sie es anstellen, also, kurz gesagt, wenn sich einige von Ihnen in dieser Hinsicht irgendwelchen Illusionen hingeben, bin ich froh, Ihnen sagen zu können, meine Lieben, seien Sie unbesorgt, erhoffen Sie sich nichts Ernstzunehmendes, nichts Umwerfendes, kurzum nichts, was wirklich der Rede wert ist, bevor diese zwanzig Jahre um sind, verlassen Sie sich drauf. Ich spreche von zwei Jahrzehnten. Wer keine Opferbereitschaft mitbringt, kann gleich gehen, ja? Na gut, ich habe meinen Namen oben an die Tafel geschrieben. Sie brauchen ihn nicht in Wikipedia suchen. Ich bin nicht Michel Houellebecq. Tut mir leid.
Auf seinem Schreibtisch lag eine Mitteilung von Richard. Es ging um eine Frühjahrsevaluation, alles vollkommen informell und sinnlos, aber Richard setzte regelmäßig solche Beurteilungen an, sie waren wie kleine Racheakte, kleine Bestrafungen für den verabscheuenswerten Bruder der Frau, die sich ihm verweigerte. Es war erbärmlich.
Er rauchte eine Zigarette, während er sich für das nachfolgende Martyrium Notizen machte – bei zeitgenössischer Literatur hatte Richard Olso einen miserablen Geschmack. Unglaublich, aber wahr. Tatsache. Der Mann, den man zum Chef des Fachbereichs Literatur gemacht hatte.
Wie hatte man ihm einen derartigen Dummkopf vorziehen können? Diese Frage ging ihm nicht aus dem Kopf. »Kann ich hier rauchen?«, fragte er, doch Richard schüttelte den Kopf und
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