Die Rastlosen (German Edition)
finden war nie einfach, und er wusste, dass er bei Richard gewisse Grenzen nicht überschreiten durfte, wenn er nicht dazu beitragen wollte, dass die Zahl der Gestrandeten weiter anstieg. So unerträglich das jetzt auch sein mochte.
»Wie dem auch sei, mein Lieber, handeln Sie uns keinen Ärger ein. Die Lästermäuler liegen auf der Lauer. Ab einem gewissen Punkt kann ich mich nicht mehr für Sie einsetzen. Marianne weiß das. Wenn Sie zum Beispiel dabei ertappt werden, wie Sie der Mutter einer Studentin den Hof machen – noch dazu einer vermissten Studentin –, dann kann ich nichts, aber auch gar nichts mehr für Sie tun. Und eines Tages wird man Sie erwischen, das ist sicher. Ich weiß es. Wir halten hier eine gewisse Disziplin ein. Das gebe ich gerne zu. Aber es ist auch nicht notwendig, Regeln zu verändern, die sich bis zum heutigen Tag bewährt haben. Machen Sie sich das klar. Und wir erwarten von allen unseren Dozenten, mein Lieber, dass sie mit gutem Beispiel vorangehen, das wissen Sie ganz genau.«
»Gibt es etwas, das mir zur Last gelegt wird? Ist man reif für den Disziplinarausschuss, wenn man eine Frau auf einen Kaffee einlädt?«
»Also gut, Marc, Sie sind kein schlechter Kerl, aber ich kenne Sie besser, als Sie denken. Ich kann Ihnen nur raten, sich in Acht zu nehmen. Ich will nicht, dass Marianne mir vorwerfen kann, ich hätte Sie nicht gewarnt. Sie sind sich selbst Ihr schlimmster Feind, mein Lieber, o ja, das können Sie mir glauben.«
Dann stellte Marianne ihren Wagen ab. Sie hatte unter jeden Arm einen Aktenstapel geklemmt und eilte über den Parkplatz. Richard und er blickten ihr nach. Sie steuerte geradewegs auf die Verwaltungsgebäude zu.
Er nutzte die Gelegenheit und verabschiedete sich von Richard, der Marianne hinterhersah und gedankenverloren den Kopf wiegte. Die Dozenten konnten es mit den Dozenten treiben, das war kein Problem und wurde in diesen Kreisen auch ausführlich praktiziert, ja sogar gefördert. Die Dozenten durften es aber auf keinen Fall mit den Studenten oder deren Eltern treiben. So lautete das Gesetz. Niemand wollte Ärger haben. Niemand dachte daran, die verschiedenen Gattungen zu vermischen. Zumindest kein vernünftiges Mitglied des Kollegiums.
Am Nachmittag schlang er in der Cafeteria eine Suppe herunter. Als er aufblickte, war sie da, sie hatte sich ihm gegenübergesetzt. Er starrte sie einen Moment mit offenem Mund an, und ihr huschte ein Lächeln übers Gesicht. »Aber nein, natürlich stören Sie mich nicht«, sagte er, »überhaupt nicht, kein bisschen. Kann ich etwas für Sie tun? Was nehmen Sie? Ich empfehle Ihnen die Kürbissuppe, sie ist köstlich.« Er beobachtete, wie sie sich leichtfüßig und mit einem Blechtablett in der Hand dem farblosen Essen näherte. Normalerweise war es fast unmöglich, in dieser Cafeteria eine Suppe zu bekommen, die diesen Namen verdiente – trotz der vielen Beschwerden, die er bei der Verwaltung eingereicht hatte und die selbstredend pure Zeitverschwendung gewesen waren –, bis auf einige Lichtblicke, einige unverhoffte Geniestreiche, wie eben diese Suppe.
Myriam nahm sich eine große Schale voll. Es war kalt draußen, da war eine Suppe genau das Richtige. Sie hatte lange gewartet mit dem Heiraten, sehr lange, und als sie sich mit fast fünfzig dazu durchgerungen hatte, als sie sich endlich dazu durchgerungen hatte, den Sprung zu wagen, wurde ausgerechnet ihr Mann ans andere Ende der Welt geschickt. Nach nicht einmal drei Monaten. So war das. Wahrscheinlich pfiffen ihm gerade die Kugeln um die Ohren, während sie hier mit ihm redete. Sie fragte sich, ob sie das als eine Strafe auffassen musste.
»Das ist doch verständlich, oder?«, fragte sie und starrte dabei in ihre Suppe.
»Mir würde es genauso gehen, glauben Sie mir. Ich würde mich den Leuten aufdrängen, da können Sie sicher sein, ganz bestimmt. Das ist ganz natürlich.« Er beugte sich vor und berührte ihr Handgelenk. Sie sah auf. »Haben Sie gelesen, was sie geschrieben hat?«, fragte er. »Das Überraschende ist, wie gekonnt sie ihre Mittel einsetzt. Wie wohldosiert sie das Tempo herausnimmt oder erhöht. Wie sie mit Präzision und Unschärfen spielt. Das ist absolut umwerfend, müssen Sie wissen. Ich wollte ihr ein B+ geben. Wir waren gleich auf einer Wellenlänge. Manchmal habe ich zu den anderen gesagt: ›Nehmt euch ein Beispiel an ihr, lasst beim Schreiben ein bisschen musikalisches Gehör erkennen. Jeder dahergelaufene Kretin kann eine Geschichte
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