Die Ratten
Wochenende? Genug! Sehen wir uns die Namensliste an.«
Die Schüler spürten, daß er gutgelaunt war, und wußten, daß sie sich etwas mehr herausnehmen konnten als sonst. Jedenfalls heute morgen.
»Nur zwei Abwesende. Nicht schlecht für einen Montagmorgen. Ja, Carlos, was ist? Du mußt zur Toilette? Aber du bist doch gerade erst in die Schule gekommen. Nun geh schon, sonst kannst du dich ja nie konzentrieren.«
Carlos, ein dünner, dunkelhäutiger Junge, bedankte sich höflich für die Erlaubnis und verließ das Klassenzimmer. Er grinste hämisch, als er dem Lehrer den Rücken zuwandte.
»Carol, verteil das Papier - Shelagh, gib die Zeichenstifte aus. Wir werden heute ein paar Tiere malen«, erklärte Harris der Klasse.
»Kann ich ein Schwein zeichnen, Sir?« fragte ein Junge in der hinteren Reihe.
»Warum ein Schwein, Morris?«
»Dann kann ich den fetten Toomey abmalen, Sir.«
Der beleidigte dicke Junge fuhr auf seinem Platz herum und verfluchte Morris, während die Klasse in Gelächter ausbrach.
»Komm mal her, Morris«, sagte Harris gelassen. Der Junge latschte vor die Klasse. »Kannst du gut Affen malen, Morris?«
»Nein, Sir.«
»Dann versuch einfach, dein Spiegelbild zu malen«, sagte Harris. Er wußte, was die Klasse erwartete. Es freute die Schüler, wenn er ein Großmaul zurechtstutzte, obwohl jeder andere als nächster dran sein konnte. Schwache Schau, dachte Harris, aber nicht schlecht für einen Montagmorgen. »Also, fangt an. Jedes Tier, das euch gefällt, aber ich will keines, das mir ähnlich sieht. Wenn ihr fertig seid, wählen wir das Beste aus, und ich erkläre euch, warum es das Beste ist. Denkt an Licht und Schatten.« Harris ging zwischen den Sitzreihen auf und ab, sprach mit den einzelnen Schülern, gab Antworten und stellte Fragen. Schließlich gelangte er zu einem Jungen namens Barney. Barney war klein für seine 14 Jahre, aber sehr aufgeweckt und gut im Malen. Nur mit der Technik haperte es bei ihm noch. Er war besonders gut mit Kuli und Füller, was er sich mit dem Abzeichnen von Comic-Heften selbst beigebracht hatte. Harris schaute dem Jungen über die Schulter auf das Bild, das Gestalt annahm.
»Warum malst du eine Ratte, Barney?« fragte er.
»Weiß nicht, Sir«, sagte Barney, saugte am Ende seines Federhalters und fügte hinzu: »Ich sah neulich eine. Eine große, wie Keogh eine...« Er verstummte, als ihm einfiel, daß sein Klassenkamerad jetzt tot war. Bei der Erwähnung von Keoghs Namen wurde der Rest der Klasse still.
»Wo hast du die Ratte gesehen?« fragte der Lehrer.
»Am Kanal. Tomlins Terrace.«
»Hast du gesehen, wohin die Ratte lief?«
»Sie sprang über eine Mauer und verschwand in den Büschen.«
»In welchen Büschen? Da unten ist doch kein Park.«
»Wo der Schleusenwärter wohnte. Nach der Schließung des Kanals ist dort fast ein Dschungel.«
Harris erinnerte sich vage an das alte Haus, das abseits der Straße stand. Als Kind hatte er oft zugeschaut, wenn die Kanalboote die Schleuse passiert hatten. Der Schleusenwärter hatte nichts dagegen gehabt, wenn ihm die Kinder bei der Arbeit zugeschaut hatten, sofern sie nicht frech gewesen waren, und er hatte sie sogar ermuntert, zu ihm zu kommen. Sonderbar, er hatte alles über diese Stelle vergessen. In letzter Zeit war er ein paarmal unten bei Tomlins Terrace gewesen und hatte sich nicht erinnert, daß es dort ein Haus gab. Vermutlich wegen des >Dschungels< davor.
»Hast du das der Polizei gemeldet?« fragte er den Jungen.
»Nee.« Barney wandte seine Aufmerksamkeit wieder der Zeichnung zu. Er fügte noch ein paar Striche zu seiner verblüffend bösartig aussehenden Ratte hinzu.
Ich hätte es wissen sollen, dachte Harris. Die Kinder in diesem Viertel halten nicht viel von der Polizei und gehen nicht freiwillig hin.
In diesem Augenblick stürzte Carlos völlig aufgelöst in das Klassenzimmer.
»Sir, Sir, auf dem Schulhof! Da ist eines von den Dingern!« Er gestikulierte zum Fenster. Seine Augen waren groß, und er lächelte in seiner Aufregung.
Die ganze Klasse eilte zu den Fenstern.
»Zurück auf die Plätze!« brüllte Harris und ging schnell zu einem der Fenster. Dann stockte ihm der Atem.
Da war nicht nur >eines von den Dingern<, sondern da waren mehrere. Und weitere gesellten sich zu der ersten Gruppe. Riesige, schwarze Ratten. Die Ratten. Sie hockten auf dem Schulhof und starrten zum Schulgebäude. Und es wurden immer mehr.
»Alle Fenster schließen«, sagte Harris mit ruhiger Stimme.
Weitere Kostenlose Bücher