Die Ratten
Notarzt-Team hörte, töteten die Ratten den Hund der Familie, um an das Kind heranzukommen. Laut Aussage der Nachbarn, die anschließend am Schauplatz waren, rissen die Ratten den Hund in Fetzen. Es war jedoch nichts mehr von den Ratten zu sehen außer ein paar halb gefressenen Kadavern, Ratten, die vermutlich von dem Hund getötet und von ihren kannibalischen Artgenossen fast gefressen worden waren. Die Kellertürr stand halb offen, aber niemand wagte sich dort hinunter. Das ist Sache der Polizei, nehme ich an.«
Nachdem er die Spritze gesetzt hatte, legte er sie in einen Behälter. »Das hätten wir«, sagte er zu Keogh. »Morgen sehen wir uns an, wie sich die Sache macht, in Ordnung?« Der Arzt wandte sich an Harris. »Das Ganze ist äußerst sonderbar. Wir hatten bereits einige Fälle von Rattenbissen und auch einige Krankheiten, die daraus resultierten, was in diesem Gebiet hier nicht verwunderlich ist, aber so etwas ist noch nie vorgekommen. Es ist einfach unglaublich. Hoffen wir, daß es nur Einzelfälle sind und nicht mehr.«
Als sie das Krankenhaus verließen, bemerkte Harris, daß Keogh immer noch zitterte.
»Was ist los? Hat dich die Behandlung mitgenommen?« fragte Harris freundlich.
»Ah, das war nichts. Ich fühle mich nur nicht so gut, das ist alles.« Keogh wischte sich mit der unversehrten Hand über die Stirn.
Will er die Schule schwänzen? fragte sich Harris. Nein, Keogh war ziemlich blaß, und den Schweiß auf der Stirn konnte er nicht vortäuschen. Vielleicht waren es die Nachwirkungen der Injektion.
»Okay, du gehst jetzt heim und bleibst morgen zu Hause, wenn du dich nicht besser fühlst. Aber vergiß nicht, morgen im Krankenhaus nach deiner Hand schauen zu lassen.« Harris wußte, daß er Keogh am nächsten Tag nicht in der Schule sehen würde; Keogh würde sich niemals eine Gelegenheit entgehen lassen, einen Tag blauzumachen. Ach, als Junge war er genauso gewesen. Da hatte er auch jede Chance genutzt, um einen freien Tag zu bekommen.
»Tschüss«, sagte Keogh und verschwand an der nächsten Straßenecke.
Auf dem Rückweg zur Schule dachte Harris über die Zwischenfälle mit den Ratten und die möglichen Konsequenzen nach. Als Junge hatte er viele dieser ekelhaften Tiere gesehen. Er erinnerte sich an einen Sonntag vor vielen Jahren, als er mit seiner Familie beim Essen gesessen hatte und ihre Katze am offenen Fenster mit einer toten Ratte zwischen den Zähnen aufgetaucht war. Sie hatten gelacht bei dem Gedanken, daß die Katze ihr eigenes Sonntagsmahl mitgebracht hatte, als sie alle aufgesprungen waren und sie verscheucht hatten. Ein anderes Mal hatte eine der Nachbarinnen behauptet, sie wäre von einer Ratte die Straße hinuntergejagt worden. Ihr Mann wäre mit einem Feuerhaken hinterhergerannt, aber die Ratte wäre in einem der zerbombten Häuser verschwunden.
Harris dachte, daß solche Ruinen jetzt etwas aus der Vergangenheit waren, was zeigte, wie sehr man den Blick für die Realität verlieren konnte, wenn man in einem guten Haus in Kings Cross wohnte. Er nahm an, daß es noch genauso viele Ratten wie früher gab, die jedoch von den Schädlingsbekämpfern buchstäblich in den Untergrund getrieben worden waren. Viele Firmen waren entstanden und machten guten Profit mit der Schädlingsbekämpfung. Obwohl Harris der Sache keine große Bedeutung zumaß, fand er es einfach sonderbar, daß beide Fälle am selben Tag passiert waren. Dies war nicht das 14. Jahrhundert!
5
Die alten Penner versammelten sich jeden Abend auf einem der wenigen verbliebenen Trümmergrundstücke im East End von London. Es war ein ehemaliger Friedhof, abseits der geschäftigen Hauptstraße von Whitechapel und ziemlich nahe bei der Aldgate-East-U-Bahn-Station. Das Trümmergrundstück war dicht mit Gebüsch bewachsen und mit offenen ehemaligen Grabstätten übersät. Ein einzelner Turm war das einzige Überbleibsel der einst stattlichen Kapelle. In dieser Nacht hatten sich sechs der Penner versammelt, und sie wußten, daß sie von der Straße aus nicht gesehen werden konnten. Alle zerstörten sich langsam durch das ständige Trinken von Äthylalkohol. Alle hatten den Höhepunkt der Verzweiflung erreicht und den Willen aufgegeben, in der menschlichen Gemeinschaft zu leben. Sie sprachen selten miteinander, denn sie waren zu sehr mit ihrem eigenen Elend beschäftigt, um sich mit dem Schicksal irgendeines anderen befassen zu können.
Zu ihnen zählte eine Frau, die sich jedoch in ihren unförmigen Lumpen kaum von
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