Die Rebellin
doch immer ein Haar in der Suppe.«
»Einen Augenblick«, sagte Sarah und nahm das Blatt von dem Stapel. »›Die Feier war eine Lektion für alle Besucher vom Kontinent, deren Staatsoberhäupter keinen Schritt ohne bewaffnete Eskorte in der Öffentlichkeit tun. Hier konnten sie erleben, wie sicher und vertrauensvoll unsere junge Königin und ihre Familiesich im engsten Kontakt mit fünfundzwanzigtausend ihrer Untertanen bewegte. Selbst der gewöhnlichste Besucher brauchte nur den Arm auszustrecken, um Ihre Majestät zu berühren, ohne Ansehen seiner Klassenzugehörigkeit, berechtigt allein durch die Summe von zweiundvierzig Schilling, die er für den Erwerb eines Saison-Tickets entrichtet hat. Kann es einen überzeugenderen Beweis für die Richtigkeit der liberalen Politik unserer Regierung geben, dass die Wahrung des Friedens und die Mehrung des Wohlstands bessere Garanten für die Aufrechterhaltung der Ordnung sind als alle Gewehre und Kanonen der Welt?‹«
»Nicht schlecht.« Paxton streifte die Asche von seiner Zigarre.
»Aber über mich schreiben sie gar nichts?«
»Nein, mein Lieber, von dir ist leider keine Rede. Abgesehen von solchen Kleinigkeiten wie dieser hier.« Sarah hielt ihm die Titelseite der
Illustrated London News
vor die Nase.
»Joseph Paxton«
, stand dort über seinem Konterfei zu lesen,
»der König des Kristallpalasts!«
Sie strahlte über das ganze Gesicht. »Alle Zeitungen sind sich einig, dass niemand an dem Erfolg so großen Anteil hat wie du. Und alle zitieren den Prinzgemahl, der in seiner Ansprache auf dem Eröffnungsball gesagt hat, England stehe in deiner Schuld.«
»Ja, das hat er,« nickte Paxton. »Vor allen Gästen. Und nicht nur das. Er hat sich sogar nach Emily erkundigt.« Nachdenklich betrachtete er die Glut seiner Zigarre. »Ich hätte mir allerdings nie träumen lassen, dass meine Tochter an einem solchen Tag nicht bei mir ist.«
»Mädchen in ihrem Alter sind nun einmal so«, erwiderte Sarah.
»Sie denken immer nur an sich und ihre Gefühle. Außerdem, du bist der Letzte, der sich wundern darf. Den Dickschädel hat sie schließlich von dir geerbt.«
»Ich hoffe nur, dass sie zurück ist, bevor ich nach Paris muss. Es wäre mir wirklich eine Beruhigung. Schließlich hat das Kind in den letzten Wochen einiges durchgemacht.«
»Du und deine Lieblingstochter«, sagte Sarah. »Aber jetzt verdirb dir nicht selbst die Laune«, fügte sie hinzu, als sie die Sorgenfalten auf seiner Stirn sah. »Das ganze Volk liegt dir zu Füßen, sogar die Chartisten loben dich über den grünen Klee.« Sie nahm den
Northern Star
und zeigte ihm die Überschrift auf der ersten Seite.
»Joseph Paxton öffnet Arbeitern den Kristallpalast.«
»Gib her!« Die kurze Missstimmung war wie weggeweht. Wenn der
Northern Star
seine Leser aufforderte, die Ausstellung zu besichtigen, war das nicht mit Gold aufzuwiegen. Doch als Paxton die Chartistenzeitung in den Händen hielt, runzelte er erneut die Stirn. Neben dem Artikel über die Einführung der Schillingstage war eine Zeichnung abgedruckt, die ihm auf merkwürdige Weise vertraut vorkam.
»Das sieht ja aus wie von Emily …«
Plötzlich war er so nervös, dass seine Hände zitterten, als er sich die Brille aufsetzte, um die Zeichnung genauer anzuschauen: Sie zeigte zwei Leichen, einen Lokomotivführer und einen Heizer, die bei einer Explosion ums Leben gekommen waren.
Sarah warf einen Blick auf das Blatt. »Unsinn!«, sagte sie. »Das kann unmöglich von Emily sein. Sie hat uns doch geschrieben, dass sie wohlbehalten in Manchester angekommen ist. Und der Unfall war hier in London, Euston Station.«
Paxton starrte weiter auf das Bild. Rings um die Leichen standen ein paar Männer, die ihre Mützen abgenommen hatten und mit betretenen Gesichtern auf die Toten herabblickten.
»Genau das ist es, meine Liebe, was mich so beunruhigt.«
11
Es stank nach Blut und Schweiß und Urin. Rußschwarze Häuser, die vom Keller bis zum Dach mit Menschen voll gestopft waren, wuchsen wie blinde, gespenstische Riesen in den Nachthimmel hinauf. In einer Ecke des Hinterhofs, im trüben Schein einer Gaslaterne, hatte sich ein Dutzend Männer um einen Holzverschlag zusammengerottet. Grölend und pfeifend empfingen sie einen jungen Arbeiter, der mit nacktem Oberkörper die kleine Arena betrat, gefolgt von einem Viktualienhändler, der einen muskelstrotzenden Bullterrier an der Leine führte.
Emily nahm ihren Block und fing an zu zeichnen.
»Warum tust du
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