Die Rebellin
hatte sie viel zu lange ertragen.
Auf einmal, sie wollte gerade die Treppe hinuntergehen, die von der Galerie hinabführte, sah sie, jenseits der gläsernen Kuppel, einen Fesselballon. Wie befreit von aller Erdenschwere erhob er sich in den blassgrauen Himmel. Bei dem Anblick zog sich ihr das Herz zusammen. Dort oben war sie Victor zum ersten Mal nahe gewesen, näher vielleicht als irgendwann sonst.
Das Bedürfnis, ihn wieder zu sehen, tat plötzlich so weh, dass sie es nicht aushielt. Gab es denn keine Möglichkeit, die Wahrheit herauszufinden?
Sie drehte sich noch einmal um.
»Du weißt, dass ich Victor geliebt habe?«, fragte sie ihren Vater.
»Nicht wie eine Schwester, sondern – wie eine Frau?«
Er nickte stumm, die Lippen fest aufeinander gepresst.
»Und wenn ich dir sage, dass ich ihn noch immer liebe, dass ich ihn heiraten und Kinder mit ihm haben will … Was wäre dann?«
»Ich würde es akzeptieren«, erwiderte er. »Auch wenn es mir noch so schwer fallen würde.«
»Wie großzügig von dir! Jetzt, da es zu spät ist! Jetzt kannst du alles erlauben.«
»Ich schwöre es, Emily!« Ihr Vater hob die Hand. »Bei allem, was mir heilig ist.
»Was will das schon heißen?«, fragte sie voller Verachtung. »Bei deinem Geld? Bei deinen Aktien?«
Doch als sie sein Gesicht sah, sackte ihre Empörung in sich zusammen. In den Augen ihres Vaters, den sie niemals hatte weinen sehen, schimmerten Tränen. Konnte es sein, dass er tatsächlich die Wahrheit sagte?
Es gab nur eine Möglichkeit, um es herauszufinden.
»Wenn ich dir glauben soll, Papa, dann sag mir eins.«
»Was, Emily? «
»Wo ist Victor? Wo finde ich ihn?« Sie machte einen Schritt auf ihn zu, die Augen fest auf ihn gerichtet. »Kannst du mir das sagen?«
28
Leer und öde wie das Leben selbst lag der Ozean da. Ein wässriger Schleier verwischte in der Ferne den Horizont, irgendwann hatte es zu regnen begonnen, doch Victor spürte die Nässe nicht, die ihm in dünnen, kalten Fäden in den Nacken rann. Das Gesicht im Wind, sah er zu, wie die dicken, schweren Tropfen auf die grauen Fluten herabfielen und beim Aufprall zerplatzten, um in der unendlichen Wasserwüste zu verschwinden.
»Was haben Sie eigentlich vor, Mr. Chatsworth, wenn wir drüben angekommen sind?«
Victor kannte den Mann, der neben ihn an die Reling getreten war, sie saßen bei den Mahlzeiten in der Kapitänskajüte manchmal nebeneinander. Er hieß Werner Blum, ein Deutscher aus dem Rheinland, der seine Heimat hinter sich gelassen hatte, um mit seiner Frau und seinen drei Söhnen nach Australien auszuwandern. Obwohl Victor den Umgang mit den übrigen Passagieren an Bord nach Möglichkeit mied, hatte er sich schon daran gewöhnt, dass sie ihn mit dem Namen ansprachen, der in den Papieren stand, die der Kapitän ihm bei seiner Ankunft auf der
Fortune
ausgehändigt hatte: Victor Chatsworth, seine neue Identität für sein Leben in der Neuen Welt.
»Meine Pläne?«, erwiderte er. »Ich weiß noch nicht.«
»Wir wollen weiter nach Adelaide«, sagte Blum in seinem holprigen Englisch. »Ich bin Winzer von Beruf, ich möchte Weinanbauen im Barossatal. Ein Onkel von mir lebt dort schon seit zehn Jahren. Haben Sie drüben auch Verwandte?«
»Wie bitte?«, fragte Victor. »Ach so, nein, Verwandte habe ich nicht.«
»Der Boden dort soll hervorragend sein, von der Sonne ganz zu schweigen. Meine Frau und ich können es kaum erwarten, dass wir endlich da sind. Wir haben Setzlinge aus der Heimat dabei, Riesling. Haben Sie schon mal Riesling getrunken, Mr. Chatsworth?«
Victor dachte an die letzte Flasche Wein, die er mit Emily hatte teilen wollen. Sie stammte aus Frankreich und hatte einen unaussprechlichen Namen gehabt. Er hatte sie allein getrunken.
»Nein«, sagte er, »Riesling kenne ich nicht. Aber – ich wünsche Ihnen viel Glück.«
»Na, dann gehe ich mal wieder zurück zu meiner Familie. Meine Jungs warten schon ganz aufgeregt am Heck, um das Ablegen nicht zu verpassen. Haben Sie Lust, mitzukommen?«
Victor schüttelte den Kopf. Blum schaute ihn noch einmal von der Seite an, doch als Victor nicht reagierte, wandte er sich ab und ging.
Victor war froh, endlich allein zu sein. Die Einsamkeit war eine Höhle, in der er Zuflucht nahm vor den hoffnungsvollen Reden seiner Reisegefährten, wenn sie von ihrer Zukunft in Australien schwärmten. Er selbst hatte keine Ahnung, was ihn jenseits des Ozeans erwartete, er hatte nur ein paar Adressen in der Tasche, vor allem die von
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