Die Rebellin
spürte.
Cole wollte etwas erwidern, aber die Stimme versagte ihm. Das Taschentuch in ihrer Hand war rot von Blut.
»Wir müssen vernünftig sein, Henry,«, sagte sie. »Irgendwann wirst du eine neue Frau brauchen, und vielleicht sogar schon bald. Dann darfst du nicht traurig sein.« Sie tätschelte seine Wange. »Kopf hoch«, flüsterte sie. »Du hast Charme und Witz, das gefällt den Frauen, du musst Gebrauch davon machen. Versprichst du mir das? Für die Kinder … und auch für mich … Damit ich in Frieden von euch gehen kann.« Sie schloss die Augen und holte mit rasselndem Atem Luft. »Denk an deinen Freund: das größte Glück der größten Zahl … Nur darauf kommt es an …«
8
»Drei Wurf für ’nen Penny!«
»Knöpfen Sie die Augen auf!«
»Das Glück ist kugelrund!«
Inmitten eines Menschenknäuels, das in alle Richtungen gleichzeitig drängte, wartete Emily vor einer Pfefferkuchenbude, umtost von den Rufen der Marktschreier und Zuschauer, von Gongtönen, Gewehrknallen und Glockengeläut. Toby hatte ihr versprochen, den Mann für sie zu finden, der angeblich der beste Drucker von ganz London war. Aber seit einer Stunde war derLehrling spurlos verschwunden. Wahrscheinlich hatte er sie an der Nase herumgeführt, genauso wie mit seinen falschen Pfefferminzbonbons.
Hatte es noch Sinn, länger zu warten? Gleich gegenüber war eine vergitterte Menagerie, davor stand ein großer, knochiger Mann in einem abgewetzten, scharlachroten Rock und einer Leopardenmütze. Mit einem Rohrstock in der Hand zeigte er bunte Bilder von einem Löwen, der einen Menschenkopf auffraß, und einem Missionar, der die Raubkatze mit glühenden Eisen angriff. Auf dem Dach der Bude hockte ein Zwerg mit einem Frauenschuh, der so groß war wie er selbst und angeblich seiner Geliebten gehörte, einer Riesin aus Australien, die für zwei Penny Eintritt zu besichtigen war. »Hereinspaziert! Hereinspaziert!« Ein Stück weiter pries ein Zirkusdirektor noch größere »Wunder der Natur« an, wilde Indianer, ein lebendes Skelett und eine leibhaftige Albinodame – »von ausgezeichneter Schönheit, mit weißen Haaren und roten Augen wie ein Kaninchen«. Emily betrachtete das Spektakel so fasziniert, als lese sie in einem Naturkundebuch. Gehörte, was sie hier sah, nicht auch zum großen Geheimnis des Lebens?
»Hörst du wohl auf, George!«
»Du musst ihn kitzeln, Mary, damit er es lässt!«
»Aber das soll er doch gar nicht!«
Hinter einem Schwarm Dienstmädchen, die von ihren Verehrern mit Küssen bedrängt wurden, folgte Emily dem Strom der Jahrmarktbesucher, vorbei an Jongleuren und Spielzeughändlern, Bärenführern und Zigarrenverkäufern. Die schamlosen Blicke der Männer, die ihr begegneten, empörten und erregten sie zugleich. Wie herrlich war es, diese fremde Welt zu erkunden, allein, ohne ihre Eltern! Sie wünschte sich, sie würde andere Kleider tragen, das Kostüm einer Schaustellerin oder den Kittel einer Marktfrau, um sich dieser fremden Welt anzupassen, so wie manche Tiere und Pflanzen in der Natur sich ihrer Umgebung anpassten, wenn diese sich veränderte.
Die Dienstmädchen strebten auf die größte Bude in der Reihe zu, einen luftig erbauten Ballsaal. Emily eilte ihnen nach, neugierig auf das Tanzvergnügen, doch bevor sie bis dahin vorgedrungen war, erregte ein Guckkasten, den ein Krüppel gerade von seinem Buckel nahm, ihre Neugier. Auf einer winzig kleinen Bühne, die keine zwei Fuß lang und höchstens zwanzig Zoll hoch war, führten mechanische Figuren ein Drama auf, wie in einem richtigen Theater. Emily hatte das Stück schon einmal gesehen, eines der Königsdramen von Shakespeare. Bald war sie ganz in das Schauspiel versunken. All die großen Gefühle, von denen sie in dunklen, schlaflosen Nächten manchmal träumte: Liebe, Hingabe, Leidenschaft – hier waren sie für ein paar Minuten Wirklichkeit.
Plötzlich hörte sie neben sich eine Männerstimme, die den Text mitsprach: »Das Blut des Königs will ich fließen sehen …« Gleich darauf veränderte sich die Stimme und sagte: »Miss Emily Paxton?«
Überrascht, an diesem Ort ihren Namen zu hören, drehte sie sich um. Vor ihr stand ein junger Arbeiter, der kaum älter war als sie selbst. Er hatte ein ernstes, olivfarbenes Gesicht und braunes Haar, das von einer Schiebermütze bedeckt war. Seine kräftigen Wangenknochen wirkten wie die eines Raubtiers, doch die dunklen, fast schwarzen Augen schienen in einem Traum verloren.
»Das ist der, den Sie
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