Die Rebellin
Victor versetzte ihr einen Tritt. Zwischen den Gleisen wimmelte es von Kohlendieben, die meisten halbwüchsige Jungen und Mädchen, verschmiert und verdreckt in zerrissenen Lumpen, gebückte, flüchtig huschende Schatten, auf der Hut vor den Streckenwärtern, die überall auf dem Gelände postiert waren und mit ihren Schlagstöcken nur darauf warteten, jemanden zu verprügeln. Auch Victor musste aufpassen, dass sie ihn nicht erwischten. Die Kohlendiebe wurden nur verprügelt, blinde Passagiere aber, die auf die Züge sprangen, wurden der Polizei überstellt.
Als er die Brücke erreichte, wich die Dämmerung bereits der schwarzen Nacht. Vorsichtig blickte Victor sich um. Da ertönte ein Pfiff, das Signal für die Abfahrt! Im selben Moment wurde Victor bewusst, was dieser Pfiff bedeutete. Am nächsten Morgen würde er in Chatsworth sein, zum ersten Mal nach über zehn Jahren! Bei dem Gedanken daran wurden seine Hände vor Aufregung feucht.
Aus der Ferne wuchs ein Geräusch heran, und dann sah er auch schon den Zug, ein schwarzes Ungetüm, größer und immer größer ragte es in der Dunkelheit auf, zischend und dampfend, mit gleißenden Lichtern, als wolle es ihn blenden. In einer Minute würde die Lok die Brücke passieren. Victor wusste, was er zu tun hatte, er sprang nicht zum ersten Mal auf einen Zug. Er drehte sich in die Fahrtrichtung und begann zu laufen, versuchte, den richtigen Rhythmus zu finden, um in dem Moment, in dem die Waggons an ihm vorüberzogen, schnell genug zu sein, damit er aufspringen konnte und doch die Kontrolle über seine Bewegungen behielt. Mit immer lauterem Getöse donnerte der Zug heran, er hörte das Stampfen der Maschine, das Kreischen der Räder, wie eine feindliche Bedrohung in seinem Rücken.
Plötzlich war es, als wiche alle Kraft aus seinem Körper. Was er vorhatte, war vollkommen verrückt. Er hatte nichts mehr in Chatsworth verloren! Sie hatten ihn davongejagt wie einen Verbrecher, ihn und seine Mutter, und sie würden es wieder tun, wenn sie ihn erwischten. Wie gelähmt stand er da, unfähig, sich von der Stelle zu rühren, sah ohnmächtig zu, wie der erste Waggon ihn passierte, der zweite, der dritte, sah die erleuchteten Abteile, die Gesichter darin, lachende, freudige Gesichter von reichen Leuten, Leuten wie Emily.
Er schloss die Augen und sah ihr Gesicht, sah ihr Gesicht und hörte ihre Stimme.
»Und wenn ich dich darum bitte? Es wäre so schön, genauso wie früher …«
13
»Die Herren lassen bitten!«
Eine geschlagene Stunde hatte Henry Cole bereits im Vorzimmer der berühmten Mundays geschmort, zweier steinreicher Industriemagnate aus Manchester, die mit Bergwerken und Fabriken ein solches Vermögen gemacht hatten, dass sie angeblich mehr Geld besaßen, als man im Buckingham-Palast stapeln konnte. Jetzt endlich forderte der Sekretär, ein kaum zwanzigjähriges Bürschchen mit geölten Haaren und goldenem Pincenez auf der Nase, ihn auf, in das Direktionszimmer einzutreten. Cole zögerte, bevor er an die Tür klopfte. Von dieser Verhandlung hing seine Zukunft ab. Nicht nur beruflich, auch privat.
Als er kurz die Augen schloss, um sich noch einmal zu sammeln, sah er Emilys Bild vor sich. Hatte er das Recht, um diese Frau zu werben? Er war inzwischen regelmäßig zu Gast bei den Paxtons, einmal pro Woche speiste er in London oder in Chatsworth mitder Familie. Marian selbst wollte es so, ihr Zustand hatte sich so sehr verschlechtert, dass sie ihn drängte, die Einladungen anzunehmen, um der Zukunft ihrer Kinder willen. Dann aber hatten sich die Dinge in einer Weise entwickelt, dass ihm davon schwindlig wurde. Er hatte sich in Emily verliebt, und während er noch mit sich selber rang, die Beziehung zu ihr und ihren Eltern abzubrechen, hatte Sarah Paxton, die von seinen privaten Verhältnissen so wenig wusste wie die übrige Londoner Gesellschaft, ihm bei seinem letzten Besuch Mut gemacht, um Emilys Hand anzuhalten. Das hatte er Marian nicht gesagt.
»Herein!«
Mit energischen Schritten betrat Cole den holzvertäfelten Raum. Die Mundays, Onkel und Neffe, erwarten ihn bereits hinter ihren Schreibtischen, die am Kopfende, wechselweise bekrönt von beider Porträts, im rechten Winkel zueinander standen. Cole musterte die zwei Männer mit einem raschen Blick. Während man James Munday, dem Älteren der beiden, einem Mann von drei Zentnern mit schlohweißem Haar, immer noch ansah, dass er vor einem halben Jahrhundert in einem Bergwerk gearbeitet hatte, erweckte sein
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