Die Rebellin
aufforderte, mit ihm zum Parlament zu ziehen, verließen sie den Platz. Emily war heilfroh, dem Hexenkessel zu entkommen. Bald hörte sie nur noch ein gleichmäßiges Rauschen, wie von einer fernen Meeresbrandung, und auch die Umgebung verwandelte sich allmählich wieder in eine ihr vertraute Welt. Die Häuser wurden immer stattlicher, die Auslagen in den Schaufenstern immer prächtiger, und die Menschen auf den Bürgersteigen lächelten sie freundlich an, wenn sie in ein Gesicht sah. Doch seltsam, je näher sie der Oxford Street kamen, umso unwohler fühlte Emily sich. Sie hatte sich immer viel darauf eingebildet, dass sie keine dumme Gans war wie die meisten anderen Mädchen, die sie kannte, sondern eine Wissenschaftlerin, die dem Geheimnis des Lebens nachspürte. Doch kaum war ihr das Leben von einer anderen, weniger vertrauten Seite entgegengetreten, hatte sie genauso reagiert, wie all die wohl behüteten Töchter aus gutem Hause es getan hätten, die sie selbst verachtete.
»So, da wären wir.«
Emily zuckte zusammen, als sie das Café sah, vor dem Victor stehen blieb. Es war das
Café Royal
in der Regent Street, das Lieblingscafé ihrer Mutter, das sie oft zusammen nach einem Einkaufsbummel besuchten. Einmal hatten sie sich hier sogar mit Henry Cole getroffen.
»Um ehrlich zu sein, ich würde lieber nicht da hineingehen.«
»Warum nicht? Gefällt es dir nicht?«, fragte er. »Ach so«, sagte er dann, und die Enttäuschung in seinem Gesicht wich einem bitteren Ausdruck. »Du hast Angst, dass man dich mit mir sieht.«
»Nein, wie kommst du darauf? Ich … ich möchte nur lieber woanders hin.«
»Na gut, aber es darf nicht zu teuer sein. Mehr als den einen Schilling habe ich nicht.«
Emily zögerte. Sie hatte eine Idee, doch kam ihr der Einfall selbst so verrückt vor, dass sie nicht wusste, wie sie anfangen sollte. Schließlich sagte sie: »Du hast mir von einer Herberge erzählt, in der du früher mal gelebt hast.«
»Du meinst, als meine Mutter und ich nach London kamen? Ja und? Was ist damit?«
»Ich möchte, dass du sie mir zeigst.«
»WAS möchtest du?«
»Ja, Victor«, sagte sie. »Ich weiß so wenig von dir. Das habe ich in Chatsworth gemerkt. Wir waren an all den alten Orten, und es war so schön, wieder mit dir da zu sein, aber das war nur unsere Kindheit. Ich möchte wissen, was danach war, wie du gelebt hast. Um … um mir dein Leben einfach besser vorstellen zu können. Ist es weit von hier?«
»Nein. Keine Viertelstunde.«
»Dann lass uns hingehen. Jetzt gleich.«
»Du weißt nicht, auf was du dich einlässt. In solchen Herbergen haust das übelste Pack von London. Kein normaler Mensch geht freiwillig da hin.«
»Aber wenn ich es möchte?«
Victor schüttelte den Kopf. »Warum willst du dir so etwas ansehen? Aus Neugier?«
»Nein«, erwiderte sie, »aus Freundschaft. Außerdem halte ich mehr aus, als du denkst. Hast du vergessen, was wir früher alles gemacht haben? Erinnere dich nur an Nelly, die Hündin des Gutsverwalters, wie sie Junge bekam und der Pfarrer sie totgetrampelt hat. Bin ich da etwa davongelaufen?«
»Das kann man nicht vergleichen«, sagte er. »Du hast doch eben schon Angst gehabt, und das war nur eine Demonstration. Lass uns lieber in das Café gehen und Schokolade trinken.«
Doch Emily ließ sich nicht beirren. »Nein«, sagte sie, und als er etwas einwenden wollte, fügte sie hinzu: »Bitte, Victor. Wie soll ich denn sonst verstehen, was mit dir passiert ist?«
Er schaute sie prüfend an. »Ist es wirklich das?«
Emily nickte.
»Dann komm.«
Mit einer Kopfbewegung forderte er sie auf, ihm zu folgen. Während die Dämmerung auf die Stadt herabsank wie ein schmutziges graues Tuch, führte er sie von der Einkaufsstraße fort in ein Labyrinth von Gassen, die immer dunkler wurden, immer fremder, immer ärmlicher, immer unheimlicher, immer widerwärtiger. Vor fünf Minuten waren sie noch bei »Hemley’s« vorbeigekommen, dem größten Spielzeugladen der Stadt, wo Kinder in Matrosenanzügen sich die Nasen an den Fensterscheiben platt drückten, um handbemalte Porzellanpuppen und bunt lackierte Schaukelpferde zu bestaunen, die so viel kosteten wie ein lebendiges Pony. Hier aber starrte die blanke Armut sie an, überall, aus Türritzen und Röhren, sickerte Spülicht auf das glitschige Pflaster, Gießbäche von Unrat, in denen sie auszurutschen drohte. Die Luft hing voller Nebelschwaden, der Gestank von Kot und Urin vermischte sich mit den Ausdünstungen von
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