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Die Rebellin

Die Rebellin

Titel: Die Rebellin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Prange
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Kuhställen, Brauereien und Schlachthäusern, während über ihren Köpfen, wie Klippen über den Gassen, die Häuser sich krumm und schief mit ihrem wimmelnden lebendigen Inhalt in den dunklen Abendhimmel erhoben. Auf einer Kreuzung, zwischen einem Dutzend halb zerfallener Gebäude, wurde ein Markt abgehalten. Ruhelos flackerte das Gaslicht an den Ständen, wo in Lumpen gehüllte Frauen um eklige Brocken vertrocknetes Fleisch und faulen Fisch feilschten. Emily wurde schon beim Anblick der Speisen übel. Wie konnten Menschen so etwas essen?
    Je tiefer sie in das Labyrinth eindrangen, desto mehr sank ihr Mut. Angst beschlich sie, eine vage, unbestimmte Angst, wie vor einer unsichtbaren Gefahr, die überall und nirgendwo lauerte.Als Kind hatte sie davon geträumt, mit ihrem Vater den Amazonas zu erkunden. Jetzt geriet sie in einen Dschungel hinein, der ihr bedrohlicher schien als alle Dschungel Amerikas und Afrikas. Es war, als würde sie sich mit jedem Schritt weiter von London entfernen, von London und England und Europa, um sich auf einen anderen Kontinent zu verirren. Doch lieber würde sie sich die Zunge abbeißen, als Victor zu bitten, kehrtzumachen.
    Vor einem rußgeschwärzten Haus blieb er stehen. Die Fensterscheiben waren vor langer Zeit herausgebrochen, die Öffnungen nur notdürftig mit Pappe und Sperrholz abgedichtet.
    »Ist es das?«, fragte sie.
    Victor nickte. »Willst du wirklich hinein?«
    Emily starrte die Tür an. Sie wusste nicht, was dahinter auf sie wartete; sie wusste nur, dass sie durch diese Tür hindurch musste – egal, welche Überwindung es sie kostete.
    »Ja«, sagte sie mit leiser, aber fester Stimme. »Du hältst mich für ein verwöhntes dummes Mädchen, und wahrscheinlich hast du ja Recht, so von mir zu denken. … Aber bitte, lass mich dir beweisen, dass ich das nicht bin.«
    Victor zögerte immer noch. »Ich meine wirklich, wir sollten das lieber lassen.«
    »Warum willst du nicht, dass ich sehe, wo du gelebt hast?« Sie war so aufgeregt, dass ihre Stimme wie ein Echo in ihrem Kopf widerhallte. »Schämst du dich etwa vor mir?«
    Victor wich ihrem Blick aus, doch die Narbe auf seiner Stirn zuckte – Emily konnte es trotz der Dunkelheit sehen. Hatte sie ihn mit ihrer Frage verletzt? Ganz sicher hatte sie das, und sie hätte sich ohrfeigen können für ihre Dummheit. Doch bevor sie sich entschuldigen konnte, hob er den Kopf und lächelte sie merkwürdig an. Merkwürdig und gefährlich.
    »Also gut«, sagte er. »Du hast es selber gewollt! Aber mach dich auf was gefasst, da drinnen herrschen andere Regeln.«
    Emily trat vor und öffnete die Tür. Im selben Moment bereute sie ihren Entschluss.
    »Mein Gott!«, flüsterte sie.
    Die Hölle tat sich vor ihr auf. Der düstere, nur von ein paar Kerzen beleuchtete Saal war vollgestopft mit Menschen. Wie Gespenster blickten sie ihr aus der Finsternis entgegen: vermummte Wesen, die auf Lagern aus Wollund Stoffresten lungerten, einzeln und zu Paaren, oft mehrere zusammen, Männer und Frauen, Alte und Junge, Kranke und Gesunde, Betrunkene und Nüchterne, verfaulend in Hunger, Dreck und Krankheit. Manche starrten stumpfsinnig vor sich hin, andere dösten im Halbschlaf, viele rauchten, einige nagten an einem Stück Brot, wobei sie mit den Zähnen mahlten wie Vieh an der Futterkrippe. Weder Lachen noch Reden war zu hören, die unheimliche Stille wurde nur ab und zu durch das Husten eines Kranken gestört.
    »Hallo, Süßer, auch mal wieder da?« Eine junge, dicke Frau, die nichts als ein Hemd trug, begrüßte Victor mit einem Züngeln. »Komm, Süßer, gib mir einen Kuss. Oder ist das deine Braut?« Victor tätschelte ihr Gesicht. »Heute nicht, Mimi! Verschwinde.«
    Fassungslos schaute Emily der Frau nach, wie sie in den Armen eines Gerbers verschwand, der sie mit braunen Händen an sich presste. Da zerrte jemand an ihrer Handtasche. Im selben Moment fuhr Victor herum und schlug den Dieb mit der Faust nieder, einen Jungen von kaum achtzehn Jahren.
    »Leck mich!«
    Im Davonstolpern ließ der Junge seine Hosen runter und zeigte ihnen sein Hinterteil. Emily schlug die Augen nieder, doch was sie da sah, ließ ihr das Blut in den Adern gerinnen. Auf dem Boden, direkt zu ihren Füßen, hockte ein Greis, der sie mit geiferndem Mund anstarrte und dabei mit beiden Händen sein rotes Glied rieb, das sich ihr aus dem Hosenlatz entgegenreckte, so groß und dick wie ein Arm. Entsetzt wandte Emily sich ab, um davonzulaufen, doch Victor packte sie so fest am

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