Die Rebellin
die Jungen in der Wärme schlüpften. Außerdem hatte Emilys Vater behauptet, Pythia trage die ganze Weisheit Griechenlands in sich, als er sie aus Konstantinopel mitgebracht hatte, von seiner großen Reise mit dem Herzog. Auf jeden Fall hatte Emily die Erfahrung gemacht, dass es meist zu ihrem Vorteil war, wenn sie den Eingebungen ihrer Schildkröte folgte.
Quälend langsam verstrich die Zeit, ein feiner, kaum sichtbarer Sandstrahl, der durch die Verengung des Glases rieselte, um auf dem Boden ein stetig wachsendes Häuflein zu bilden. Doch die Schildkröte rührte sich nicht. Wie sollte sie auch? Es gab ja keinen Grund mehr, Victor wieder zu sehen, Emilys Vater hatte das
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verkauft, und dann hatte ihre Mutter ziemlich deutliche Andeutungen gemacht, dass Mr. Cole sich wohl balderklären werde – er müsse nur Rücksicht auf einen Krankheitsfall in der Familie nehmen. Selbst als Emily die Sanduhr noch einmal herumdrehte, um Pythia zusätzliche fünf Minuten Bedenkzeit zu geben, machte diese keinerlei Anstalten, ihrer eigenen Einsicht und Vernunft entgegenzutreten. Nur einmal, die Uhr war fast abgelaufen, kroch sie auf ein Salatblatt zu. Doch statt es zu fressen, stupfte sie nur mit dem Maul daran. Dann stieß sie einen leisen Pfeifton aus, und ihr kleiner Lederkopf verschwand wieder unter dem braunen Panzer.
»Drury-Lane-Theater!«
Eine Stunde später hielt der Pferdeomnibus vor dem Gebäude, das Emily als Treffpunkt vorgeschlagen hatte. Trotz Pythias Weigerung war sie in die City gefahren – sie hatte das Gefühl, dass sie Victor persönlich vom Ende des
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in Kenntnis setzen sollte, statt ihm einen Brief zu schreiben, und dieses Gefühl wog schwerer als das Orakel der Schildkröte. Auch musste sie mit ihm in Verbindung bleiben, wenn sie ihn mit ihrem Vater versöhnen wollte. Es war eine Frage der Freundschaft, die nichts mit Henry Cole oder einem anderen Mann zu tun hatte. Und es war eine Frage der Selbstachtung. Sie hatte Victor schon einmal im Stich gelassen und es ihr Leben lang bereut. Ein zweites Mal würde sie das nicht wieder tun, gleichgültig, was ihre Schildkröte davon hielt.
»Aus dem Weg!«, rief der Schaffner und öffnete den Schlag.
Als Emily vom Trittbrett sprang, traute sie ihren Augen nicht. Sie kannte den Platz von vielen Theateraufführungen, die sie mit ihren Eltern besucht hatte, doch wo sonst im Schein der Gaslaternen Kutschen vorfuhren und vornehme Herrschaften in festlicher Abendrobe auf das erleuchtete Portal zustrebten, drängten sich jetzt unzählige ärmlich gekleidete Menschen. Unsicher schaute Emily in die Gesichter. Obwohl sie sich von Mary, der Köchin, eine grobe Strickjacke geliehen hatte, um mit ihren teuren Kleidern in Victors Welt nicht aufzufallen, waren ihr die Menschen hier so fremd wie Wesen von einem anderen Kontinent.Manche trugen Schilder, auf denen politische Parolen standen:
Gleiches Recht für alle! Freie und geheime Wahlen! Ein Mann – eine Stimme!
Emily hatte Mühe, sich einen Weg durch das Gewühl zu bahnen. In was war sie da hineingeraten? In eine Demonstration der Chartisten, die überall im Land Aufstände schürten?
Um sich einen Überblick zu verschaffen, stieg sie die Stufen zum Theater empor. Trotz der Menschenmassen herrschte auf dem Platz eine unheimliche Stille, wie vor einem Gewitter. Plötzlich holten Emily all die Zweifel ein, die sie während der Omnibusfahrt verdrängt hatte. Was zum Himmel wollte sie hier? Sie hatte hier so wenig verloren wie ein Arbeiter im Club ihres Vaters. Die vielen Menschen um sie herum machten ihr Angst, manche starrten sie an und zeigten auf sie, während die Demonstranten in immer größeren Scharen aus den angrenzenden Straßen und Gassen auf den Platz strömten und eine Tribüne umringten, die wie ein Schafott aussah. Am liebsten wäre Emily davongelaufen. Wie sollte Victor sie hier jemals finden?
»Endlich! Da kommt er! Er ist da!«
Auf dem Platz breitete sich Unruhe aus. Die Leute reckten die Hälse, jemand stieß Emily in die Rippen, die Menge schob und drängte in die Richtung der Tribüne, die gerade ein Riese mit feuerrotem Haar betrat. Emily erkannte ihn sofort: Der Mann war Feargus O’Connor, der irische Führer der Chartisten.
»Ihr Strolche! Ihr Schurken!«
Brüllend wie ein Löwe erhob er seine Stimme. Während seine Helfer Körbe und Kübel mit Unterschriftslisten auf die Bühne brachten, schrie er unsichtbaren Gegnern die Forderungen der Arbeiter zu. Emily kannte die Charta, sie
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