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Die Rebellin

Die Rebellin

Titel: Die Rebellin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Prange
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rutschte auf ihrem Platz ein Stück beiseite, damit die Frau neben ihr eines der Mädchen auf den Schoß nehmen konnte. Victor schaute wieder auf die Straße hinaus. Wohin wollte sie wohl? Wahrscheinlich zu ihren Eltern – er wusste, das Haus der Familie befand sich an einer Straßenecke zwischen dem James und dem Green Park, er hatte einmal Toby dorthin geschickt, damit er einen Brief für Emily abgab.
    Auf einmal hatte Victor das sichere Gefühl, dass ihre Augen auf ihn gerichtet waren. Wie von einem Brennglas gebündelt brannten ihre Blicke auf seinem Rücken, während der Bus an einer Reihe von Clubhäusern und Hotels vorüberfuhr. Eine helle Frauenstimme lachte. War das Emily? Er zwang sich, sich nicht umzudrehen. Vielleicht erzählte sie gerade ihrer Platznachbarin,wer er war, und die beiden lachten über ihn, weil er nicht den Mut fand, sie anzusprechen … Emily musste ihn inzwischen gesehen haben, egal, wie viele Menschen sich in dem engen Bus drängten. Jedes Mal, wenn jemand ihn in die Seite stieß, zuckte er zusammen, weil er glaubte, dass sie es war.
    Er hielt es nicht länger aus. Über die Schulter eines dicken Mannes, der ein buntes Tuch um den Hals trug, schaute er zu ihr hinüber. Wieder klappte sie das Fenster auf, und wieder schob ihr Nachbar es mit seinem Regenschirm zu. Komisch, dass sie sich das gefallen ließ, von so einem alten, kleinen Mann … Nervös zupfte sie an ihrem Kleid, ihr Gesicht wirkte angespannt. Ob sie Sorgen hatte? Der Gedanke erfüllte Victor mit seltsamer Genugtuung. Warum sollte sie keine Sorgen haben? Jeder Mensch hatte Sorgen, das war normal. Schließlich war es kein besonderes Verdienst, Miss Emily Paxton zu sein! Eine verwöhnte Prinzessin war sie, nichts weiter, die einfach davongelaufen war, als es einmal darauf ankam. Kein Wunder, dass sie nicht einmal mit dem alten Idioten fertig wurde.
    Warum bog der Bus jetzt in die Pall Mall Street ab? Zu den Parks ging es doch geradeaus … Der dicke Mann trat einen Schritt vor, um ein Reklameplakat zu lesen, und nahm Victor die Sicht auf Emily, während der Wagen in Richtung Waterloo rollte. Immer größer, immer prächtiger wurden die Häuser draußen, immer eleganter und vornehmer die Menschen, die auf den Bürgersteigen flanierten. Was für hochmütige Gesichter sie zogen! Livrierte Lakaien führten magere Hunde mit spindeldürren Beinen an goldbeschlagenen Leinen spazieren, und Kindermädchen passten auf Kinder auf, deren Kleider mehr Geld kosteten, als Victor in einem ganzen Jahr verdiente. Das war die Welt, in der Emily lebte. Sollte sie darin glücklich werden – er hatte davon genug! Endgültig! Ein für alle Mal!
    Vor dem Eingang eines palastartigen Gebäudes, von dessen Balkon eine gestreifte Fahne herabhing, patrouillierten rot berockte Soldaten mit Fellmützen und Gewehren.
Botschaft der VereinigtenStaaten von Nordamerika …
Als Victor das goldene Schild über dem Portal las, durchzuckte ihn die Erkenntnis wie ein Blitz: Wenn er jetzt den Bus verließ, würde er Emily vielleicht nie wiedersehen.
    Unwillkürlich drehte er sich um. Gott sei Dank! Sie saß noch auf ihrem Platz. Sie hatte ihrem Nachbarn den Rücken zugekehrt und sprach mit den zwei Mädchen. Wie wunderschön ihr Lächeln war, während ihre türkisgrünen Augen zwischen den Kindern hin und her wanderten. Der Anblick des Grübchens auf ihrer Wange, desselben Grübchens, das sie als kleines Mädchen schon immer bekommen hatte, wenn sie sich über irgendetwas ganz besonders freute und über irgendetwas ganz besonders wütend war, erfüllte Victor mit einem so drängenden Bedürfnis, noch einmal ihre Stimme zu hören, ihr Lachen, mit ihr zu sprechen, sie zu berühren, dass ihm davon ganz flau im Magen wurde und gleichzeitig auch ganz wunderbar.
    Er gebrauchte die Ellbogen, um zu ihr zu gelangen, doch er kam nicht von der Stelle. Neu einsteigende Fahrgäste schoben sich immer wieder zwischen ihn und Emily.
    Jemand tippte ihm auf die Schulter. Victor fuhr herum.
    »Das Fahrgeld, Mister!«, sagte der Schaffner.
    Victor zeigte ihm seinen Fahrschein. »Ich habe schon bezahlt.«
    »Der gilt nur bis Trafalgar. Noch zwei Pence, oder hier ist Endstation!«
    Der Bus stand am Parliament Square. In schier endloser Reihe säumten die neuen Parlamentshäuser mit ihren zahllosen Türmen und Türmchen den Platz. Victor kramte in seiner Tasche. Mr. Benson hatte ihm einen Penny Trinkgeld gegeben, und irgendwo musste er noch einen Halfpenny und ein paar Farthings haben.

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