Die Rebellin
Ankündigung geheißen, die Victor in Mr. Finchs Werkstatt selbst gedruckt hatte, konnte jeder sein Glück machen, der mutig und fleißig genug war, sein Schicksal in die Hand zu nehmen. Victor hatte Toby nach der Pleite mit O’Connorville versprochen, dass ihm was einfallen würde. Vielleicht war Amerika die Chance, auf die er gewartet hatte.
»
Festival des Freihandels oder gefährliches Spielzeug
?«
»
Wird die Opposition zustimmen
?«
Plötzlich, mitten im Straßengewühl, zwischen abgehetzten Börsenmaklern, bummelnden Journalisten und vornehmen Damen, die aus den Geschäften strömten und sich von ihren Dienstboten die Einkaufstaschen hinterhertragen ließen, sah Victor eine junge Frau – Emily. Sie hob gerade den Saum ihres grünweiß gestreiften Kleides, um in einen Pferdeomnibus zu steigen.
»Trafalgar Square!«, rief der Schaffner. »Houses of Parliament! Westminster Bridge!«
Ohne zu überlegen, sprang Victor auf die Plattform. Während der Bus sich mit einem Ruck in Bewegung setzte, schob der Schaffner ihn in den vollkommen überfüllten Wagen und warf den Schlag hinter ihm zu.
»Vier Pence, Mister!«
Eingequetscht zwischen drängelnden Passagieren, die alle gleichzeitig versuchten, in dem viel zu engen Wagen einen Platz an einer der Haltestangen zu ergattern, gab Victor dem Schaffnerdas Fahrgeld. Er bereute bereits seinen Entschluss. Warum zum Teufel war er auf den Wagen gesprungen? Wozu? Vorsichtig, damit sie ihn nicht sah, spähte er zwischen den Schultern und Köpfen der Fahrgäste nach Emily. Sie stand am Aufgang zum Oberdeck und wartete darauf, dass ein Junge im Matrosenanzug die Treppe frei machte, doch gerade als sie hinaufsteigen wollte, wurde neben einer Frau mit zwei Mädchen ein Sitz frei und sie nahm Platz an der Seite eines kleinen alten Mannes, der sich mit mürrischem Gesicht auf den Griff seines Regenschirms aufstützte.
Als Emily sich setzte, hob sie den Blick. Für eine Sekunde sah Victor ihre türkisgrünen Augen. Im selben Moment kehrte er ihr den Rücken zu. Es war vollkommener Unsinn, mit ihr zu sprechen! Was hatten sie einander noch zu sagen? Seine Hand, mit der er die Haltestange umklammerte, war feucht von Schweiß. Um irgendetwas zu tun, starrte er auf die bunten Reklameplakate, die vor ihm an der Wand zwischen zwei Wagenfenstern klebten.
Messer von Mechi – die besten der Welt …
50 000 Menschen vom Tode errettet, dank Dr. Morison’s Pillen …
Hyam & Compagnie, der wissenschaftliche Beinkleiderverfertiger …
Ob sie ihn erkannt hatte? Wenn ja, dann wusste sie auch, dass er ihr nachgelaufen war. Die Vorstellung war ihm so peinlich, dass er sich Gewissheit verschaffen musste. Nein, sie hatte ihn nicht gesehen. Sie war von ihrem Platz aufgestanden und öffnete gerade ein Fenster, um frische Luft hereinzulassen. Die Frau mit den Kindern nickte ihr dankbar zu, während sie sich mit der Hand Luft zufächelte. Wie hübsch Emily in dem gestreiften Kleid aussah. Sie hatte das Haar hochgesteckt und trug Ohrringe, genau in der Farbe ihrer Augen. Doch kaum hatte sie wieder ihren Platz eingenommen, reckte der kleine alte Mann sich neben ihr und schob mit dem Griff seines Regenschirms das Fenster, das sie soeben geöffnet hatte, wieder zu. Victor zogsich die Mütze tiefer ins Gesicht und beschloss, an der nächsten Haltestelle auszusteigen.
Vor dem King’s College hielt der Bus an, ein paar Fahrgäste verließen den Wagen, andere drängten hinein, doch Victor rührte sich nicht vom Fleck. Auszusteigen kam ihm auf einmal feige vor – als würde er vor Emily davonlaufen. Nein, eine solche Blöße würde er sich nicht geben, weder vor ihr noch vor sich selbst. Er hatte genauso ein Recht, in dem verdammten Bus durch die Stadt zu fahren wie sie, schließlich hatte er genau wie sie vier Pence dafür bezahlt.
Ihm war jetzt so warm, dass er sich den Kragen öffnete. Und wenn sie ihn doch gesehen hatte und nur darauf wartete, dass er sie endlich ansprach? Unter den Augen von Lord Nelson, der von der Höhe seiner Säule herab auf den Platz schaute, überquerte der Bus Trafalgar Square, vorbei am Brunnen mit den sprühenden Fontänen, und fuhr weiter nach Westen, genau in die entgegengesetzte Richtung von Victors Ziel. In der Ferne läutete Big Ben. Schon halb sieben, und um halb acht begann der Vortrag. Er würde den Anfang verpassen, zu Fuß brauchte er eine Stunde ins East End, und er hatte nicht genug Geld, um mit dem Bus zurückzufahren. Herrgott, was machte er hier? Emily
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