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Die Rebellin

Die Rebellin

Titel: Die Rebellin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Prange
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nahm eine Bleistiftzeichnung, die er kurz nach der Hochzeit von Marian angefertigt hatte, aus dem Mahagonirahmen und legte sie in den Karton, in dem er seine persönlichen Gegenstände einsammelte. Mein Gott, was für ein strahlendes Lachen sie einmal gehabt hatte! Jahrzehnte schienen seitdem vergangen. Nun schämte sie sich für ihr Gesicht, weil es von der Krankheit gezeichnet war. Sie hatte sich sogar geweigert, für die Daguerrotype zu posieren, die ein Bildkünstler am Heiligen Abend von der Familie aufgenommen hatte. Sie hatten einen Tannenbaum im Wohnzimmer aufgestellt – ein Weihnachtsbrauch, den Prinz Albert in England eingeführt hatte –, und nach dem Abendessen hatten die Kinder Scharaden aufgeführt. Dann hatten sie alle zusammen Blindekuh gespielt, sogar sein alter Freund John Stuart Mill, der zu Besuch gekommen war, lachte ihm auf der Fotografie entgegen. Cole seufzte. Das größte Glück der größten Zahl – mit der Weltausstellung wäre es vielleicht Wirklichkeit geworden. Doch jetzt? Vor über sechs Wochen war er in Chatsworth gewesen, um sich Emily zu offenbaren, seitdem hatte er keine Nachricht mehr von ihr bekommen. War das die Strafe für sein doppeltes Spiel? Für den Verrat an seiner Frau?
    Nein, der Grund war allein der verfluchte Vertrag mit den Mundays. Während er noch auf ein Zeichen von Emily gewartet hatte, war er ein Dutzend Mal nach Manchester gefahren, um die Unternehmer zur Begrenzung ihrer möglichen Gewinne zu bewegen, damit die Kritik der Presse endlich verstummte. Doch die Mundays hatten keinerlei Entgegenkommen gezeigt. Warum sollten sie ihre Gewinne begrenzen? Sie trugen ja auch das Risikounbegrenzter Verluste! Die Königliche Kommission hatte darum den Vertrag gekündigt, mit Hilfe jener Klausel, die Cole im letzten Moment vor der Unterzeichung noch in die Vereinbarung aufgenommen hatte. Ein Befreiungsschlag, mit dem die Mundays so wenig gerechnet hatten wie mit der Möglichkeit, dass eines Tages die Themse austrocknen würde. Doch niemand hatte Cole diesen Dienst gedankt – im Gegenteil. Statt zum Sekretär des Exekutivkomitees hatte man ihn zum einfachen Mitglied eines bedeutungslosen Unterkomitees ernannt, eine Demütigung, die schlimmer war als ein Rauswurf, und Prinz Albert, der nur noch mit dem nach wie vor ungelösten Hauptproblem beschäftigt war, das der Weltausstellung im Weg stand – dem Entwurf und Bau des Pavillons –, weigerte sich weiterhin, ihn auch nur zu empfangen. Nein, Henry Cole war für immer erledigt, und seine Demission von allen Ämtern und Aufgaben, die er am Morgen bei Lord Granville, dem stellvertretenden Leiter der Kommission, eingereicht hatte, war die einzige Möglichkeit gewesen, wenigstens seine Ehre zu retten.
    Plötzlich hörte er Stimmen auf dem Flur.
    »Ich möchte Lord Granville sprechen! Bitte melden Sie mich! Jetzt gleich!«
    Cole stutzte. Die Stimme kannte er doch … Er verließ den Schreibtisch und öffnete die Tür. Tatsächlich, vor ihm stand Joseph Paxton. Was im Himmel wollte er hier?
    »Tut mir Leid, Sir, Lord Granville ist bereits außer Haus. Aber vielleicht kann ich Ihnen dienen?«
    Die Gegenwart dieses Mannes war Cole überaus peinlich. Seit Wochen hatten sie einander nicht gesehen, und er wusste nicht einmal, wie weit Emily ihren Vater inzwischen von seiner Lage und seinen Absichten in Kenntnis gesetzt hatte. Doch da er ihn nicht auf dem Flur abfertigen konnte, ließ er ihn eintreten.
    »Ich würde gern den Entwurf der Kommission für den Pavillon sehen«, sagte Paxton, als sie unter vier Augen waren. »Wäre das möglich?«
    »Sicher, Sir, gewiss, wenn Sie es wünschen.« Cole öffnete einen Rollschrank und holte die Pläne daraus hervor. »Allerdings muss ich Sie bitten, sie vertraulich zu behandeln. Wie Sie sicher wissen, wurden sie noch nicht veröffentlicht.« Den letzten Satz fügte er nur um der guten Ordnung willen hinzu, während er das Blatt mit dem Aufriss auf dem Schreibtisch ausbreitete. Eigentlich ging ihn das ja gar nichts mehr an. »Alle Mitglieder der Kommission haben sich daran beteiligt, doch die meisten Ideen stammen natürlich von Mr. Barry und Mr. Brunel, wobei Letzterer für die Federführung verantwortlich zeichnet.«
    Eine Hand am Kinn, die andere am Ellbogen, betrachtete Paxton den Entwurf: ein langes, düsteres, dreigliedriges Hallengebäude aus Ziegelstein, das in der Mitte von einer riesenhaften Kuppel aus Eisenplatten bekrönt wurde.
    »Das ist ja noch schlimmer, als ich befürchtet

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