Die Rebellion der Maddie Freeman - Kacvinsky, K: Rebellion der Maddie Freeman - Awaken
fragte ich, ohne mit einer ernsthaften Antwort zu rechnen. Doch Justin begann, mir einen ganzen Vortrag zu halten. Er behauptete, dass man am meisten sieht, wenn man nach nichts Bestimmtem Ausschau hält. Er sprach davon, wie kurzsichtig es macht, immer konkrete Ziele im Auge zu haben, sodass man schließlich nur noch sieht, was man sehen will.
»Als würde man sein ganzes Leben lang durch ein Mikroskop gucken«, sagte er. »Dadurch verliert man das Gesamtbild aus dem Blick. Manchmal muss man sich auf einen Irrweg einlassen, um Neues zu entdecken.«
Ich konnte Justin nur anstarren, während er all diese Sätze herunterratterte, als wären das für ihn alltägliche Gedanken. Am liebsten hätte ich ihm ein Aufnahmegerät vorgehalten und seine Worte auf die Computerleinwand über meinem Bett gemalt, um jeden Tag mit ihnen aufzuwachen. Denn plötzlich war mir klar geworden, dass ich auf genau solche Worte schon unendlich lange gewartet hatte.
Ich schaute aus dem Bahnfenster auf den verwischt vorbeihuschenden Bürgersteig der Third Street, der wir in nördlicher Richtung folgten. Nur ab und zu hielten wir an, wenn Passagiere ein- oder aussteigen wollten. Um uns herum breitete sich ein Großstadtdschungel aus stählernen Bürohochhäusern aus. Ich starrte an den gigantischen Gebäuden hoch, die den Himmel verschluckten. Und ich dachte an die Menschen, die darin arbeiteten: Morgens wachten sie umgeben von Computern auf, saßen den ganzen Tag vor ihren Tastaturen und ließen sich nach Feierabend von ihren Flipscreens oder Wandbildschirmen berieseln, wo sie ein Leben aus zweiter Hand führten, das unterhaltsamer war als ihr eigenes. Wir waren zu einer Kultur aus Zombies geworden, die sich mechanisch von einer Digitalwelt zur nächsten bewegten.
Nach Kilometern von Bürogebäuden hielt die Bahn beim WillametteRiver Park, der größten Grünfläche in unserer Stadt. Durchs Fenster schaute ich auf die hügelige Weite, die zwischen den Wolkenkratzern fehl am Platz wirkte. Hohe Kunststoffbäume wiegten sich im Wind. Sie waren wunderschön und wirkten so echt, dass man von selbst nie auf die Idee gekommen wäre, sie für künstlich zu halten. Ihre Formen und sanften Bewegungen sahen völlig natürlich aus. Darin ähnelten sie den digitalen Welten: Zwar waren sie nicht wirklich echt, aber die Nachahmung war so perfekt, dass die Leute sie nie in Frage stellten.
»Weißt du«, sagte Justin und nickte in Richtung des Fensters, »das da draußen kann man natürlich auch online erleben, aber dann ist es nur geschwindelt. Kein Computerprogramm kann vermitteln, was es heißt, etwas mit eigenen Sinnen zu erfahren. Zum Beispiel kann man sich virtuell alle möglichen Sportarten beibringen lassen, aber in Wirklichkeit spielt man nicht mit. Man ist nur ein Zuschauer. Die Leute sitzen auf der Tribüne und schauen ihrem eigenen Leben zu, anstatt wirklich zu leben. Dabei gibt es nichts Besseres, als endlich in das Spiel einzusteigen. Dann spürt man, dass es alle Mühe wert war.« Er schaute sich im Abteil um, lehnte sich zu mir herüber und flüsterte: »Im Übrigen ist eines meiner Lieblingshobbys, Leute zu beobachten. Inzwischen hat man ja wenig Gelegenheit dazu, aber in der Bahn kommt man noch mit Menschen zusammen.«
Unauffällig betrachtete ich die zwei anderen Passagiere in unserem Abteil. Ein Mann um die vierzig saß zusammengesunken ganz hinten und hatte zwei große Koffer links und rechts neben sich stehen. Er sah müde und mitgenommen aus und seine Augen starrten stumpf geradeaus. Vorne im Abteil saß ein älterer Mann, dessen Gesicht fast hinter einem zotteligen grauen, bis auf die Brust reichenden Bart verschwand. Er murmelte vor sich hin und wiegte sich wie zu einer Musik, die nur er hören konnte.
Justin hielt seine Stimme gesenkt. »Ich versuche gerne auszuknobeln, was für Geschichten dahinter stecken. Wohin dieLeute unterwegs sind, woran sie gerade denken.« Er nickte in Richtung des Passagiers mit den Koffern. »Der Mann da drüben zum Beispiel. Was hältst du von ihm?«
Ich warf einen Blick auf das Gepäck und sagte, ohne lange darüber nachzudenken: »Sieht aus, als würde er eine Reise machen.«
Justin schüttelte den Kopf. »Glaube ich nicht«, flüsterte er. »Siehst du, dass aus dem Reißverschluss ein Hemdzipfel raushängt? Er hat eilig zusammengepackt, ohne lange nachzudenken. Vielleicht hatte er einen Streit mit seiner Freundin, hat alles aus ihrer Wohnung eingesammelt, was ihm gehört, und ist
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