Die Rebellion der Maddie Freeman - Kacvinsky, K: Rebellion der Maddie Freeman - Awaken
ausgezogen.«
Ich schaute mir den Mann noch einmal an und entdeckte unterdrückte Wut in seinem müden Blick. Tatsächlich sah er nicht körperlich erschöpft aus, sondern eher emotional ausgelaugt. »Vielleicht hat sie ihn betrogen.«
Justin nickte. »Auf jeden Fall gab es eine hitzige Szene.«
Als Nächstes betrachtete er den Mann vorne im Abteil. »Dann haben wir noch den gesprächigen Typen da drüben.« Ich hob die Augenbrauen und mustere den alten Mann, der weiter vor sich hinbrabbelte. »Was ist wohl mit ihm los?«, wollte Justin wissen.
Ich verdrehte die Augen. »Er führt Selbstgespräche, also vermute ich mal, dass er nicht ganz dicht ist.«
Justin dachte darüber nach. »Vielleicht ist er normal und wir sind die Verrückten. Vielleicht ist es gesund, ab und zu mit sich selbst zu reden. Vielleicht haben wir bloß Angst davor, was wir sagen würden.«
»Ja, schon klar«, antwortete ich. Trotzdem blieben seine Worte in meinen Gedanken hängen, als hätte jemand auf die Wiederholungstaste gedrückt. Wir waren alle darauf programmiert, uns innerhalb vorgeschriebener gesellschaftlicher Rollen zu bewegen. Ich fragte mich, wie das Leben wohl aussehen würde, wenn wir immer unsere Meinung sagen könnten, ohne an die Folgen denken zu müssen.
Die Bahn hielt an der Station Hamersley, wir stiegen aus und gingen den Bürgersteig entlang. Es begann gerade zu dämmern, und die Luft fühlte sich anders an, oder vielleicht hatte nur ich mich verändert. Nach den Stunden zusammen mit Justin hatte ich das Gefühl, als hätte ich eine zu eng gewordene Haut abgeworfen. Die Veränderung war kaum merklich und hatte sich so natürlich vollzogen wie ein lautloser Wetterumschwung, ein stilles Auseinandergleiten der Regenwolken, um die strahlende Sonne hindurchzulassen.
»Danke, dass ich deine Freunde kennenlernen durfte«, sagte ich.
»Keine Panikattacke?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Jetzt verstehe ich, was du mit Geselligkeit meinst«, gab ich zu. Die nächsten Worte wählte ich sorgfältig, da ich es nicht gewohnt war, offen und ehrlich über Gefühle zu sprechen. »Online kommt es mir manchmal vor, als wären wir gar keine echten Personen mehr, eher Charaktere in einem Buch oder Film.« Ich fühlte seinen Blick auf mir. »Als würden wir die ganze Zeit in einer Realityshow leben. Wenn uns eine Szene nicht gefällt, ändern oder löschen wir sie, um ein bestimmtes Bild von uns zu vermitteln. Da beginnt man sich doch zu fragen, ob man überhaupt jemanden kennt.«
Justin nickte, sagte aber nichts.
»Meldest du dich demnächst wieder?«, fragte ich, als wir in meine Straße einbogen.
»Deshalb habe ich dir meine Freunde vorgestellt. Damit sie für mich Kontakt halten können.«
Ich schaute ihn an. »Aber was ist, wenn ich mit dir sprechen will?« Ich hätte nicht erklären können, wieso ich mich Justin so nahe fühlte, doch er bedeutete mir mehr als viele Onlinefreunde, die ich schon seit Jahren kannte. Manche Personen können durch ihre pure Gegenwart eine Energie ausstrahlen, die man mit jeder Pore aufnehmen will. Als brauche man sich nur lange genug inihrer Nähe aufzuhalten, damit ein bisschen davon auf einen selbst abfärbte. Aber erst jetzt war mir klar geworden, welchen Unterschied die körperliche Gegenwart dabei machte. Man kommt sich auf einer Ebene näher, die durch bloße Worte einfach nicht zu erreichen ist.
Justin blieb stehen und wandte sich mir zu. Sein Gesicht war plötzlich verschlossen, genau wie bei meinem Vater, wenn er seine Gefühle vor mir verbarg, weil er gleich etwas Verletzendes sagen würde. Ich spürte schon jetzt die Enttäuschung in mir hochkochen.
»Es gibt da etwas, das du von Anfang an akzeptieren musst«, sagte Justin langsam und mit sorgfältiger Betonung. »In meinem Leben, bei meiner Arbeit, ist kaum etwas voraussagbar. Ich bleibe nie lange am selben Ort. Du kannst mir vertrauen und ich werde dich nie anlügen. Aber ich kann nicht verlässlich für jemanden da sein. Das lässt mein Leben einfach nicht zu. Je früher du das einsiehst, desto besser. Ich melde mich, wenn es einen guten Grund dazu gibt, und sonst nicht.«
Mein Blick wurde genauso angespannt wie seiner. Ich brauchte jemanden, auf den ich mich stützen konnte, und außer Justin hatte ich niemanden. Ich brauchte ihn.
»Aber was ist, wenn ich mit dir reden muss?«, fragte ich.
Er zuckte mit den Schultern. »Du kannst jederzeit Clare anrufen.«
»Das ist keine Antwort auf meine Frage.«
Seine Lippen wurden
Weitere Kostenlose Bücher