Die Rebellion
oder vermißt. Die Vermißten
waren höchstwahrscheinlich auch tot. Einige der Überlebenden
hatten hastig in niedrigere Häuser eingeheiratet und ihren Namen aufgegeben, als Gegenleistung für Zuflucht und Schutz,
doch auch von ihnen war eine ganze Reihe verschwunden. Die
Wolfs besaßen einen langen Arm – und endlose Bosheit.
Adrienne wußte, daß sie mit der Gesellschaft hätte brechen
müssen, wenn sie auch nur einen Funken Stolz im Leib besessen hätte. Genau so, wie die Gesellschaft mit ihr gebrochen
hatte. Aber sie konnte nicht. Adrienne kannte nichts anderes.
Das große Spiel von Einfluß und Intrigen war das einzige
Spiel, das den Namen wert war. Und es machte definitiv süchtig. Sie hätte alles getan, alles versprochen, um noch einmal
einen Fuß in die Tür stellen zu können. Entweder das – oder
die Flucht in den Untergrund, den sie verachtete. Adrienne
hatte keinen Sinn für Rebellion. Lauter Gesindel. Schläger,
Unpersonen und niedere Stände. Sie war nie jemand gewesen,
der sein Licht unter den Scheffel stellen konnte. Im großen und
ganzen gefielen Adrienne die Dinge so, wie sie waren. Abgesehen von ihren persönlichen Umständen natürlich. Wenn sie
nur den richtigen Hebel finden würde – und sie hatte keinerlei
Zweifel, daß sie ihn früher oder später finden würde –, dann
wäre sie schon bald wieder Mitglied der feinen Gesellschaft.
Man mußte sie einfach wieder aufnehmen. Adrienne gehörte
schließlich dazu. Schon möglich, daß sie die Gesellschaft hin
und wieder attackiert hatte, aber ohne sie war Adrienne verloren. Adrienne Feldglöck wußte nur, wie man ein Aristokrat war
und das große Spiel spielte, sonst nichts.
Genau aus diesem Grund hatte Adrienne sich nach und nach
darauf beschränkt, immer verzweifeltere Anrufe bei unwichtigen Elementen, niedrigeren Häusern und diesen sogenannten
›Persönlichkeiten‹ zu tätigen, die von den Krümeln lebten, die
die besseren Spieler vom Tisch fallen ließen. Sie waren bekannt für ihren Geschmack, ihre Schlagfertigkeit und dafür,
allzeit über den neuesten Klatsch informiert zu sein. Sie kamen
und gingen wie die Moden – bis auf eine. Eine Gestalt war
immer da und sorgte mit stachligen Bonmots und bissigen Bemerkungen für Gelächter und gehobene Augenbrauen. Chantelle. Weniger Freundinnen als geachtete Rivalinnen, kannten
sich die beiden Frauen seit Jahren. Chantelle besaß weder blaues Blut noch politischen Einfluß, aber irgendwie schaffte sie es
trotzdem immer wieder, bei Soireen und Festen, die zu besuchen sie sich die Ehre gab, jedermanns Aufmerksamkeit auf
sich zu ziehen. Sie zog sich nicht nach der Mode an, sie machte
sie. Chantelle entschied mit geblähten Nüstern oder gönnerhaftem Lächeln über Chic und alles andere von Bedeutung. Man
konnte sich an ihrem Charme die Fingernägel abbrechen, und
sie vergab niemals eine Demütigung. Chantelle und Adrienne
hatten immer eine Menge gemeinsam gehabt. Einschließlich
mehrerer Ex-Liebhaber, die jedoch den Mund in dieser Hinsicht fest verschlossen hielten. Jedenfalls diejenigen, die wußten, was gut für sie war und was nicht. Wenn es Adrienne gelang, Chantelles Unterstützung zu gewinnen, würde niemand
mehr wagen, Adrienne zu beleidigen oder ihre Anrufe nicht
entgegenzunehmen. Wenn Chantelle einen akzeptierte, tat die
Gesellschaft das gleiche. Jedenfalls diejenigen aus der Gesellschaft, die wußten, was gut für sie war und was nicht.
Adrienne atmete tief durch und stellte eine Verbindung her.
Schließlich bestand die nicht geringe Aussicht, daß Chantelle
in Adriennes Sturz ihre eigene Zukunft erkannte und Mitleid
verspürte. Der Schirm klärte sich überraschend schnell.
Adrienne zuckte unwillkürlich zusammen, als sie Chantelles
Stirnrunzeln erblickte. Die Herrin der Moden trug ein ziemlich
verknittertes Ballkleid und Make-up. Anscheinend war sie eben
erst von einer Feier nach Hause gekommen. Ihr langes Haar
funkelte in leuchtendem Bronze mit silbernen Tupfen, und ihr
herzförmiges Gesicht fluoreszierte – nur ein wirklicher Pedant
hätte bemängelt, daß der Schimmer auf Chantelles Haar an
verschiedenen Stellen stumpf wirkte und das Make-up rings
um ihren Mund ein wenig verschmiert war. Adrienne behielt
ihre Beobachtung für sich. Für den Fall, daß sie im Verlauf des
Gesprächs noch Munition benötigen sollte. Sie lächelte tapfer
in den Schirm, doch bevor sie etwas sagen konnte, schniefte
Chantelle vernehmlich.
»Ich
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