Die rebellische Republik / Warum wir uns nicht für dumm verkaufen lassen
für oder gegen das Abi entscheiden; bei uns tun dies die Eltern von Zehnjährigen nach der vierten Klasse – und entscheiden damit praktisch über deren gesamten Lebensweg. Die Quittung heißt Pisa. So schwachsinnig dieses pseudowissenschaftliche Rankingmonster insgesamt auch sein mag, den Unterschied zwischen »zurückgeblieben« und »brillant« zeigt es dennoch.
Auf dem Weg vom Kind zum »Erwachsenen« erleben die Heranwachsenden – und dadurch auch ihre Umgebung – vor allem fünf mehr oder minder existenzielle Bedürfnisse, und zwar das Bedürfnis nach:
Abgrenzung von allen übrigen Generationen (»Traue keinem über 30 «) und vor allem den Eltern (»Ich bin kein Kind mehr«, »Ihr seid echt peinlich«);
Anerkennung und Beachtung durch die Gesellschaft und ihre Eltern;
Setzen eines Zeichens, das keiner übersehen kann;
Weltverbesserung, am liebsten hier und jetzt;
ersten sinnlichen, insbesondere erotischen Erfahrungen. Gerade in der Pubertät wird dieses Bedürfnis meist zum wichtigsten, und zwar schichtenunabhängig.
Jugendlicher Widerstand erwächst aus dem Erwachsenwerden selbst und zieht sich durch alle Kulturen und Zeitalter. Mit der Auflehnung gegen die Lebensverhältnisse der Elterngeneration wollen sich die Sprösslinge von den Abhängigkeiten befreien, in die sie hineingeboren wurden und in denen sie aufwachsen. Dieser Protest kann ohne tieferen Sinn sein oder vor idealistischer Weltverbesserei strotzen. Interessant sind seine unterschiedlichen Spielformen.
Pseudopolitisches Aufmucken
Gelegentlich jubelt man gewisse Formen jugendlichen Aufbegehrens grundlos zu politischem Widerstand hoch. Provokation und Rebellion an sich bedürfen jedoch keiner subversiven Absicht und keines politischen Bewusstseins. Die Halbstarken der Zeit eines James Dean wollten weder in den USA noch in Deutschland oder anderen westlichen Industriestaaten eine andere Gesellschaft, sondern – wenn auch auf unübersehbare Art – schlicht die Aufmerksamkeit und Zuneigung der ihr (noch) fremden Gesellschaft. Kapitalismus, Sozialismus, Kommunismus oder Monarchie standen für sie nicht einmal als Frage im Raum. Auch die pazifistisch-pseudoreligiöse Bewegung der sechziger und siebziger Jahre rund um John Lennons und Yoko Onos
Give Peace a Chance
war – obwohl der Song den Ex-Beatle damals zum »Staatsfeind« der USA machte und noch heute als Hymne der Friedenbewegung gilt – im Kern keine wirklich politische. Der Forderung »Schießt nicht aufeinander, sondern habt euch alle lieb«, also der Vision eines kindlich gedachten Paradieses auf Erden, kann in dieser allgemeinen Form des »frommen Wunsches« niemand ernsthaft widersprechen.
Vorsicht Rattenfänger: die Jugendsekten
Ähnliches gilt für die zahlreichen Jugendsekten der siebziger und achtziger Jahre, diese Protestreligionen am Rande der Gesellschaft
.
[299] Allerdings lockten die oft konspirativen Zirkel weniger mit öffentlichem Protest als vielmehr mit religiös verpackter Realitätsflucht. Sie präsentierten sich als einzigen Ort, wo sich die Heranwachsenden verstanden und geborgen fühlen konnten. Für dieses Gefühl nahm man harte körperliche Arbeit sogar in fernen Ländern, Trennung von der Familie, psychoterroristischen Gruppendruck und absoluten Gehorsam gegenüber irgendeinem dahergelaufenen Anführer (»Guru«) in Kauf. [300] Derzeit sind diese Aussteigervereine relativ bedeutungslos. Weil aber »gesellschaftliche Werte« wegen Jugendarbeitslosigkeit, Lehrstellenmangel, Überwachungsstaat oder Massenarmut immer schwerer zu vermitteln sind, können solche Sekten jederzeit wieder erstarken. Dies dürfte allerdings vielen Reichen und Mächtigen – ungeachtet von geheucheltem Entsetzen – hundertmal lieber sein als eine humanistisch motivierte und politisch engagierte Jugend, die sich beispielsweise gegen Stuttgart 21 erhob. Motto: Besser, die beten das
Fliegende Spaghettimonster
[301] an, als dass sie uns bei Korruption, Umverteilung nach oben, Zerstörung der Landschaft und Scheffeln des Maximalprofits in die Quere kommen.
In der Gesellschaft angekommen: die Punks
Zwar kommt kaum eine Protestbewegung (oder was sich dafür hält) ohne ein »kulturelles Begleitprogramm« aus – man denke nur an die
Internationale
oder
Brüder zur Sonne zur Freiheit
und zahllos anderes Liedergut der Arbeiterbewegung, das umgedichtete Volkslied
Wer jetzig Zeiten leben will
der AKW -Gegner, das erwähnte
Give Peace a Chance
der Friedensbewegung oder
Macht
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