Die rebellische Republik / Warum wir uns nicht für dumm verkaufen lassen
wenn’s mit dem Wachstum hinhaut und der Staat für die fehlende private Nachfrage einspringt. Die Neoliberalen sagen: Sieht nicht so aus, aber ist uns doch wurscht. Die Sozialisten sagen: Niemals, deswegen wollen wir ja ein anderes Wirtschaftssystem.
Erst kommt das Fressen, dann die Moral.
Bert Brecht
Zur Beantwortung dieser Frage nutzt den Regierungen kein Fifty-fifty- und kein Telefonjoker. Sie sollten aber unbedingt das Publikum befragen. Immerhin könnte von den Spielräumen und Grenzen für humanistische, demokratische, wirtschaftliche Reformen innerhalb unserer Gesellschaftsordnung die Zielrichtung des Widerstandes abhängen.
In diesem Zusammenhang ist es ein weitverbreiteter Irrtum, man könne dem Widerstand und damit dem grundsätzlichen Infragestellen unseres Gesellschaftssystems und seiner Machtverteilung endgültig das Wasser abgraben, zum Beispiel durch einen möglichst ewigen Aufschwung und die damit theoretisch verbundene Möglichkeit zur allgemeinen Verbesserung der Einkommen sowie der Lebens- und Arbeitsbedingungen, also durch eine allgemeine Mehrung des Wohlstands.
»Richtig ist eher das Gegenteil«, sagt Politologe Franz Walter: »In ökonomischen Krisen sind die davon hauptsächlich betroffenen Menschen meist ermattet, ohne Hoffnung, dadurch passiv, resigniert. In Zeiten wirtschaftlicher Dürre und Entbehrung hissen die Menschen nicht die Fahnen des Umsturzes … Erst müssen sich die strangulierenden Fesseln der ökonomischen Pressionen zu lösen beginnen. Erst muss sich das soziale Elend in
bewusste
Unzufriedenheit übersetzen können. Erst dann ist langfristig angelegte Auflehnung und Gegenwehr ernsthaft zu erwarten.« [645]
Aber prinzipielles »Revolutionspotenzial« steckt nicht nur in den unteren und mittleren Gesellschaftsschichten, sondern auch ganz weit oben, nämlich im frustrierten Führungsnachwuchs. »Ob sich aus dem Abfall der gebildet-blockierten Nachwuchselite allein eine literarische Revolte oder ein kleinbürgerlicher Verdrossenheitspopulismus ergibt; oder ob das zur Ausgangslage weitreichender Veränderungen wird«, hängt für Walter »davon ab, inwiefern es zur großen, indes stets schwierigen
Begegnung
der geistigen Opponenten mit der Sozialopposition von unten kommt. Eine solche, bekanntlich eher rare Verbindung – die Symbiose von Laptop und Putzmopp – schwächt jedenfalls die Legitimationsgrundlagen eines politischen Systems beträchtlich.« [646]
Sollten dann auch noch die Mächtigen ihre Geringschätzung des Staates und seiner Einrichtungen demonstrieren, so »schreitet die Erosion von etablierter Macht und die Courage zur Widerständigkeit der oppositionellen Kräfte … massiv voran. Das reduziert den Respekt vor den Ordnungsstrukturen und administrativen Pfeilern des Systems, senkt die Schwelle der Frucht der Herrschaftsgegner, mit ihren Attacken auf die öffentlichen Einrichtungen Chaos und Anarchie zu stiften. Massive Deregulierungen von oben fördern und rechtfertigen den fundamentalistischen Angriff auf den Staatsapparat von unten.« [647]
Das Volk steht auf: Revolutionen, Bürgerkriege und Volksaufstände sind zweifellos die extremste Form des Widerstands. Und speziell in Deutschland scheint ein derartiges Ereignis unwahrscheinlicher als der Zusammenprall von Mars und Merkur im Weltall. andererseits gab es doch die ebenfalls für unmöglich gehaltene friedliche Revolution in der DDR . Oder? Zum Ersten wären – selbst wenn man den Mut der Hunderttausende von Demonstranten bewundert – Maueröffnung, D-Mark-Einführung und Vereinigung nie möglich geworden ohne Michail Gorbatschows Perestroika und den Kuhhandel der vier Alliierten. Zum Zweiten war – bezogen auf die Gesamtbevölkerung – nur eine Minderheit an den Protesten aktiv beteiligt: »Republikflucht« ist nun mal etwas anderes als Teilnahme am Kampf. Zum Dritten ging es den meisten DDR -Bürgern offenbar vor allem um die D-Mark und die Reisefreiheit – beide Ziele wurde ja nicht
gegen,
sondern
durch
die SED erreicht.
Revolutionen werden im Nachhinein stets glorifiziert, man denke nur an den Spartakusaufstand, die russische Oktoberrevolution oder den chinesischen Bürgerkrieg, nicht zu vergessen der Kieler Matrosenaufstand von 1918 , der schließlich zur deutschen Novemberrevolution von 1918 / 19 und zum Ende des Kaiserreiches führte. [648] Bei allen Volksaufständen aber bleibt stets die Frage: Ist es wirklich
das Volk,
das sich erhebt? Handelt es sich am Ende um eine radikale
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