Die rebellische Republik / Warum wir uns nicht für dumm verkaufen lassen
kleines Beispiel, vom Autor als jobbender Oberschüler Anfang der siebziger Jahre selbst erlebt: In einem Zulieferbetrieb mit etwa hundert Mitarbeitern ging jeden Freitag kurz vor Wochenendbeginn der Chef mit Pralinenschachteln durch die Abteilungen und hatte für jeden ein freundliches Wort (»Wie war denn Ihr Atlantik-Urlaub?« – »Hat Ihre Tochter die fünfte Klasse gepackt?« – »Geben Ihre nervigen Nachbarn noch immer keine Ruhe?«). Das Ergebnis: Waren einmal Überstunden fällig, waren alle mit dabei, und auch sonst hatten die Angestellten das Gefühl, eine gute, saubere Arbeit dem netten Chef schuldig zu sein. Genau diese, von Neoliberalen als »Nostalgie« verspottete Art des gegenseitigen respektvollen Umgangs erlebt aber gerade jetzt eine Renaissance.
Politikprofessor Colin Crouch bringt diese skurrile »Schicksalsgemeinschaft« auf den Punkt: »Wenn es nicht zu einer massiven Eskalation des Protests und des Widerstands kommt, was könnte den globalen Unternehmen dann eine solche Angst um ihre Gewinne einjagen, dass ihre Vertreter an den Verhandlungstisch zurückkehren?« [660]
Dieses Erkaufen oder Ergaunern der Zustimmung der Arbeitnehmer und des ganzen Volkes zur permanenten Verschlechterung ihrer Lebens- und Arbeitsbedingungen durch die vergleichsweise preiswerte Herstellung eines Betriebsklimas ist für die Gegenseite eine Existenzfrage. In einem nämlich haben die Neoliberalen recht und sind ihre Kritiker Tagträumer oder Heuchler: Unter
heutigen
Bedingungen und in
konkreten
Situationen sind für manches Unternehmen Lohnkürzungen, Entlassungen und Betriebsschließungen eben nicht der »Gier« geschuldet, sondern tatsächlich »alternativlose Sachzwänge«, will es nicht den Preiskampf mit der Konkurrenz verlieren und vom Markt verschwinden. »Alternativlos« ist schließlich auch für den Fernfahrer das Tanken zum überhöhten Monopolpreis – soll er etwa aufs Fahrrad umsteigen? »Alternativlos« ist auch für viele Kranke die Zahlung völlig überteuerter Medikamente und für gehbehinderte Dorfbewohner der Einkauf bei einem bestimmten Discounter, weil der nächste Laden zwanzig Kilometer entfernt ist.
Insofern interessierten auch einen Karl Marx die Ackermänner dieser Welt »als Personen nur, soweit sie die Personifikation ökonomischer Kategorien sind, Träger von bestimmten Klassenverhältnissen und Interessen«. Folglich könne man keinesfalls »den Einzelnen verantwortlich machen für Verhältnisse, deren Geschöpf er sozial bleibt«. [661] Genau diese Personifizierung betreiben zum Beispiel SPD und Gewerkschaften, man denke nur an Franz Münteferings legendären Heuschreckenvergleich von 2005 , mit dem der damalige SPD -Chef die US -Private-Equity-Gesellschaften treffen wollte. Hatte sich der Sozialdemokrat schon den Vorwurf des Anti-Amerikanismus und der NS -ähnlichen Argumentation eingefangen, [662] so setzte die IG Metall mit der Titelseite der Mai-Ausgabe ihres Mitgliedermagazins
metall
» US -Firmen in Deutschland – Die Aussauger« noch einen drauf.
Zweck dieser Schimpftiraden ist aber nicht etwa »übertriebene Kapitalismuskritik«, sondern deren Gegenteil. Wenn nämlich die zunehmenden Probleme der zusehends globalisierten westlichen Marktwirtschaft vor allem auf »Gier«, »Rücksichtslosigkeit« und andere Charakterschwächen zurückzuführen sind, dann genügt es ja folglich, dass die Verantwortlichen sich ändern und schärfer kontrolliert oder gar ausgetauscht werden.
Die Menschen indes machen die praktische Erfahrung und kommen mehr und mehr zu der Erkenntnis, dass kein Haufen von Bösewichten den allumfassenden Schlamassel verursacht, sondern das auf Profitmaximierung beruhende Gesellschaftssystem selbst. Neben den bereits erwähnten Umfragen zeigt dies eine Studie der GfK-Marktforscher vom Juli 2009 . Demnach finden 75 Prozent, dass es in Deutschland »im Großen und Ganzen« ungerecht zugeht. [663]
Nun stehen wird also vor dem Problem, dass immer mehr Menschen quer durch alle Schichten erkennen, dass es so nicht mehr weitergehen kann und unser System immer häufiger, krachender und deutlicher an seine Grenzen stößt, es aber naturgemäß keine konkreten, über Allgemeinplätze hinausgehenden Vorstellungen von einer »besseren Welt« gibt.
Dies allerdings ist auch gar nicht erforderlich. Ein »Masterplan« für eine Gesellschaft, in dem sich das Kleinere aus dem Größeren ergibt, war bislang eher das Kennzeichen totalitärer Systeme und wurde bislang auch
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