Die rebellische Republik / Warum wir uns nicht für dumm verkaufen lassen
Saunawärterin Renate Knopprich »gar nicht in Erscheinung getreten« und ihr »gar nicht aufgefallen« [641] war, gibt heute die große Revolutionsführerin und belehrt die Völker der Welt und die Creme der westlichen Regierungschefs in Sachen Revolution und Demokratie.
»Wir haben 1989 keinen Tag warten wollen, wir wollten die D-Mark. Aber als wir nach dem 3 . Oktober 1990 dann sahen, wie schwer der ganze Prozess tatsächlich war – da war es gut, dass wir uns Zeit gelassen haben.« »Merkels Revolutionserfahrung ist gefragt«, lästerte sogar
Welt Online.
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Nebenbei gesagt: Natürlich braucht man Zeit, um eine neue Marionette zu finden, die zugleich auch das ägyptische Volk täuschen kann. Derweil bilden sich zusehends auch organisatorische Formen der weltweiten Rebellion heraus. Für eine globale Koordinierung des Widerstandes kämpfen zum Beispiel mit wachsendem Erfolg die radikaldemokratischen Aktivisten der serbischen Gruppe
Otpor.
Diese »Umsturz-GmbH«
(Süddeutsche Zeitung)
trug bereits maßgeblich zum Sturz des Diktators Slobodan Miloševic ́ bei und trainiert derzeit unter anderem die Regimegegner in Ägypten, Tunesien und im Iran in Sachen friedliche Revolution: Die nämlich »fällt nicht vom Himmel«, wie auch
SZ -
Balkankorrespondent Enver Robelli recht kämpferisch feststellt, sondern muss »vorbereitet werden, klare Ziele haben und von starkem Beharrungswillen geprägt sein«. Auf den Demonstationen in Kairo sah man übrigens jede Menge schwarze Fahnen mit erhobener weißer Faust – dem Otpor-Enblem. [643] Alles zusammengenommen, zeigt sich, wie dringend erforderlich eine weltweite Koordination des Widerstands ist.
Schluss: Widerstand zwecklos?
Keine der hier behandelten Protestbewegungen kämpft für die Abschaffung von Demokratie, Rechtsstaat und Gesellschaftsordnung, ebenso wenig für eine »andere Republik«, geschweige denn für ein System à la Iran oder China. Vielmehr geht es ihnen häufig gerade um die Verteidigung des »Geistes des Grundgesetzes«, also der durch die »Ewigkeitsklausel« (Artikel 79 , Absatz 2 ) geschützten Artikel 1 (Menschenwürde) und 20 (Republik, Demokratie, Bundes-, Rechts- und Sozialstaat). Ansonsten ist das Grundgesetz keine in Stein gemeißelte heilige Kuh – schließlich erfuhr es bereits über sechzig Änderungen. Folglich kann das Eintreten für Veränderungen des Grundgesetzes nicht grundgesetzwidrig sein.
Stürmische Zeiten: Die neue Protestwelle wächst
Dass der Verfassungsschutz also besonders eifrig hinter den Verteidigern der Grundrechte her ist, hängt mit der Frage zusammen,
was
hier eigentlich tatsächlich geschützt werden soll: Sind es wirklich Menschenwürde, Sozial- und Rechtsstaat? Wieso musste das Bundesverfassungsgericht einen ganzen Misthaufen vom Bundestag verabschiedeter Gesetze als verfassungswidrig kippen? Basteln vielleicht umgekehrt gewisse politische Strömungen im Auftrag ihrer Financiers und Förderer an einer
anderen
Gesellschaft? Die Neoliberalen nennen ihre profitorientierte, von jeglichem »Sozialklimbim« freie Marktwirtschaft Neue Soziale Marktwirtschaft – entwickelt sich auch unsere Demokratie mit Turbotempo zu einer
Neuen Demokratie
Orwellscher Prägung?
Das grundsätzliche Problem hat der Soziologe und Nationalökonom Max Weber bereits im Jahr 1904 anschaulich beschrieben: »Die heutige kapitalistische Wirtschaftsordnung ist ein ungeheurer Kosmos, in den der Einzelne hineingeboren wird und der für ihn, wenigstens als Einzelnen, als faktisch unabänderliches Gehäuse, in dem er zu leben hat, gegeben ist. Er zwingt den Einzelnen, soweit er in den Zusammenhang des Marktes verflochten ist, die Normen seines wirtschaftlichen Handelns auf. Der Fabrikant, welcher diesen Normen dauernd entgegenhandelt, wird ökonomisch ebenso unfehlbar eliminiert, wie der Arbeiter, der sich ihnen nicht anpassen kann oder will, als Arbeitsloser auf die Straße gesetzt wird.« [644]
Die Eine-Million-Euro-Frage aber lautet: Ist es auf Grundlage unserer profitorientierten Wirtschaftsordnung überhaupt möglich, dass es den Menschen (nicht nur finanziell) immer besser geht, oder hat das System eine Grenze erreicht, von der an Hildegard Knef in Kraft tritt: »Von nun an geht’s bergab«? Ist ständig mehr Wohlstand für alle möglich?
Die sozialen Marktwirtschaftler sagen: Ja, hat doch beim Wirtschaftswunder der sechziger Jahre schon mal geklappt. Die Keynesianer, deren Politik die siebziger Jahre beherrschte, sagen: Ja,
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