Die Rebenprinzessin
fahren sollte? Oder war es gar ein unheilvolles Omen?
Obwohl Bella die Traumbilder gern verdrängt hätte, kam sie nicht umhin, die Geschehnisse von damals weiterzuspinnen.
Nach der Grablegung ihrer Mutter war ihr Vater zu Stein erstarrt. Er kümmerte sich kaum noch um seine Tochter und verbrachte viele Stunden am Grab seines Weibes.
Lediglich der Wein vermochte ihn aus seiner Starre zu reißen. Die Arbeit auf dem Weinberg und im Weinkeller setzte sich uneingeschränkt fort, doch oftmals saß Bella nun am Fenster ihrer Kemenate und fühlte sich, als sei sie unsichtbar geworden.
Schließlich hatte sie sich für immer längere Zeit in den Weinberg geflüchtet, manchmal bis in den späten Abend hinein. Sie wollte ihren Vater dazu bringen, zu ihr zu kommen, sie abzuholen und auf den Arm zu heben, wie er es früher getan hatte. In diesen Augenblicken hätte sie sogar seine Schelte oder Strafen in Kauf genommen, nur um den Preis, von ihm beachtet zu werden.
Letztlich war es doch jedes Mal die Kinderfrau gewesen, die sie abgeholt hatte, stumm und ohne einen Vorwurf.
Das ging so lange, bis ihr Vater sich entschloss, sie ins Kloster zu schicken …
Die Bilder zogen sich nun zurück, doch die Aufgewühltheit in ihrem Herzen blieb. Da es Bella unmöglich war, noch länger zu bleiben, erhob sie sich von der harten Pritsche. Die Zugluft, die unter der Zellentür hindurchwehte, strich ihr über die Füße und klärte ihren Verstand. Ihr Blick wanderte zum Fenster.
Noch reichte der Sonnenschein, der einen feurigen Vorboten an den Horizont gemalt hatte, nicht aus, um das Glühen der Sterne verblassen zu lassen. Bis zu ihrem Aufbruch würden noch einige Stunden vergehen.
Dann habe ich wenigstens Zeit, Abschied zu nehmen, dachte Bella, während sie ihren Blick durch die Zelleschweifen ließ, die für acht Jahre ihr Zuhause gewesen war.
In den ersten Tagen hatte sie diesen Ort aus tiefstem Herzen gehasst und wäre am liebsten davongelaufen. Der kleine, kahle Raum mit den gekalkten Wänden und dem hölzernen Kruzifix an der Wand war ihr wie eine Kerkerzelle vorgekommen. Die schmale, harte Pritsche und das Fenster, das zwar nur wenig Licht in den Raum ließ, aber dennoch im Winter so viel Kälte, dass sie trotz ihrer Decke wie ein Schneider fror, verstärkten diesen Eindruck noch.
Auch sonst hatte Bella viele Gründe, um mit ihrem Dasein im Kloster zu hadern.
Sie war die erste Tochter eines Grafen, und damit sollte es eigentlich nicht ihr Schicksal sein, an diesen Ort abgeschoben zu werden!
Bella versah ihre Arbeit und ihre Gebete so, wie es gewünscht wurde, aber wenn sie allein war, schossen ihr nicht selten die Tränen in die Augen. Sie wollte nach Hause, nichts weiter. Jede Nacht flehte sie Gott an, ihren Vater zur Einsicht zu bringen, damit er sie zurückholte. Doch der ersehnte Bote und die Kutsche, die sie erwartete, waren ausgeblieben.
Eines Tages, voller Angst, den Klostermauern nie wieder zu entfliehen, war sie weggelaufen – jedoch nicht weit gekommen. Triefend nass hatte sie am Ende vor der Mutter Oberin gestanden, die ihr mit ungewohnt scharfem Ton klarmachte, dass so etwas nicht noch einmal vorkommen dürfe.
Und dann, als hätte der Strahl der Einsicht sie getroffen, offenbarte sie Bella etwas, das ihr Vater dem Mädchen bei der Abreise nicht gesagt hatte. Die Grafentochter war keineswegs hier, um Nonne, sondern um erzogen und unterrichtet zu werden, eine Aufgabe, der sich ihr Vater nicht gewachsen sah. Ihre Kenntnisse im Schreiben sollten vertieft werden, sie sollte in Algebra unterwiesen werden und anhand des klösterlichen Weinbergs lernen, wie man mit Wein umging. Wenn ihr Vater es für richtig hielt, würde sie zurückkehren, aber nicht früher!
Bella hatte in jener Nacht kein Auge zugetan.
Das Unwetter hatte an ihrem Zellenfenster gerüttelt, wie damals, als ihre Mutter von ihnen gegangen war. Der Mond, der es zeitweilig schaffte, sein Licht durch die Wolken dringen zu lassen, hatte gespenstische Figuren erscheinen lassen, die sich nicht einmal durch die innigsten Gebete vertreiben lassen wollten.
Nun war ihr letzter Morgen im Kloster gekommen, und etwas schien urplötzlich in ihr zu wachsen. Eine Ranke, die ihr Herz umschlang. Wehmut hieß die Blüte, Ungewissheit lautete der Name ihrer Blätter.
Was mich wohl zu Hause erwartet?, fragte sich Bella und zog das einfache Hemd fröstelnd vor ihrer Brust zusammen. Wird es eine glückliche Heimkehr sein, oder werde ich mir wünschen, im Kloster
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