Die rechte Hand Gottes
Malzac in seine Herberge zurück, aß zu Abend und legte sich ins Bett. Am nächsten Tag ging er wieder ins Archiv und untersuchte die Jahrgänge 1664, 1665 und 1666.
Die Haut seines Zeigefingers war von all den Seiten, die er umgeblättert hatte, wundgescheuert, als er schließlich eine Pause machte, sich eine Tasse Kaffee mit einem Schuß Alkohol servieren ließ und auch den Archivar dazu einlud.
Er berichtete ihm von seiner Enttäuschung, doch der Mann unterbrach ihn:
»Warum haben Sie mir nicht gesagt, daß Sie ein Findelkind suchen? Die sind in einem eigenen Register verzeichnet. Zu jener Zeit gab es so viele, daß das wesentlich praktischer war.«
Der Trouvé, den Malzac suchte, war der siebzehnte des Jahresbandes 1663. Er konnte ihn mit Sicherheit ausmachen, denn er war der einzige Justinien im gesamten Register und die Hinweise waren eindeutig:
Gefunden am 10. Juni des Jahres 1663 am Fuß des Gründerdenkmals. Nase abgeschnitten. Getauft am selben Tag und der Amme Coutouly, 5, Rue du Pompidou in Roumégoux übergeben.«
»Wieder einen Prozeß gewonnen«, sagte sich der Anwalt, während er den Eintrag abschrieb.
4
Bellerocaille, Sonnabend, den 13. März 1906
Léon Trouvé hielt seinen Kutschwagen an und wartete, bis Saturnin hinausgesprungen war und das große runde Brot unter dem Sitz hervorgezogen hatte.
»Sag ihm, daß ich auf dem Rückweg vorbeikomme«, brummte er in seinen Bart und wies dabei mit dem Kinn auf das Herrenhaus.
Saturnin drückte den Brotlaib an die Brust und ging mit steifem Gang auf das große Tor zu. Léon sah ihm eine Weile nach. Er war nicht fähig, diesem Kind gegenüber Liebe zu empfinden, und er schämte sich ob seiner Vorbehalte einem Zehnjährigen gegenüber. »Stille Wasser sind tief«, sagte Hortense streng. »Man weiß nie, was er denkt, er ist ein Naseweis, vor dem man sich besser in acht nimmt! « Doch selbst Léon war der Ansicht, daß seine Frau eine so böse Zunge hatte, daß sie sich eines Tages mit ihrem eigenen Speichel vergiften würde.
Bevor er weiterfuhr, sah er, wie Saturnin einen Torflügel öffnete und eintrat. Die Beziehung zu seinem Vater hatte sich kaum verbessert, seit der Anwalt Malzac die Justizbehörde gezwungen hatte, ihre Entscheidung zu revidieren und Léon zu gestatten, den Namen Trouvé zu führen. Das Geheimnis der Pibracs, das nun in aller Öffentlichkeit enthüllt war, und das Buch „Der Blutberuf“, das der Anwalt zwei Jahre zuvor veröfentlicht hatte, hatten nicht gerade dazu beigetragen, Hippolytes Groll gegen seinen Sohn zu dämpfen. Er nannte ihn nur noch »den Verräter«.
»Der Verräter« hatte mit jenen Worten, die er allerdings sogleich bereut hatte, aufbegehrt: »Wenn Sie diese Welt verlassen haben - und das werden Sie eines Tages -, werde ich Herr dieses Hauses sein, und dann werde ich alles niederreißen lassen, bis auf den letzten Stein. Damit nichts mehr daran erinnert, wer hier gelebt und was sich hier mehr als dreihundert Jahre lang abgespielt hat.« Dann würde vielleicht auch endlich jenes Vorurteil verschwinden, das ihn sein ganzes Leben lang verfolgt hatte.
Kurze Zeit nach seiner unvorsichtigen Äußerung hatte er erfahren, daß sein Vater einen Antrag zur Aufnahme des Herrenhauses in das Gesamtverzeichnis der Kunstschätze Frankreichs eingereicht hatte, um das Haus unter Denkmalschutz stellen zu lassen.
Saturnin lehnte das Brot an die Mauer, um beide Hände frei zu haben und den schweren Flügel wieder schließen zu können. Es stimmte ihn jedesmal froh, wenn dieses Tor hinter ihm ins Schloß fiel. Hier war er zu Hause, hier war sein Platz.
Er nahm den Laib wieder auf und ging durch den Hof. In der Nähe des Brunnens sah er das Kabriolett von Calzins, dem ehemaligen Notar. Sein Großvater hatte also Besuch. Da die Küche leer war, legte er das Brot auf das Holzgestell, das an der Wand befestigt war.
"Guten Tag, Großvater, guten Tag, Monsieur Calzins«, sagte er und versetzte dem Huhn, das ihm die Treppe hinauf gefolgt war, einen Tritt.
Hippolyte saß in Gesellschaft des alten Notars an dem großen Eichentisch und aß Radieschen. Calzins hatte das Amt an seinen Sohn Guy abgetreten, der der Stellvertreter des Bürgermeisters Barthélemy Boutefeux war (»Die Boutefeux' haben ein Mittel gefunden, wieder Herren über Bellerocaille zu werden«, stichelten ihre politischen Gegner.) Wie jeden Monat war der alte Mann gekommen, um seine Salbe, eine Mischung gegen den Rheumatismus, die
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