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Die rechte Hand Gottes

Die rechte Hand Gottes

Titel: Die rechte Hand Gottes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Folco
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wiehern, doch er hütete sich, seinen Unterschlupf zu verlassen.
    Als der Angriff beendet schien, schlug er mit seinen Steinen Feuer und zündete die Kerzen an, um seine Pistolen nachladen zu können. Er warf beunruhigte Blicke zum Eingang, aber auch auf den Wolf, der mit blutendem Schädel auf dem Boden lag, aber keineswegs tot war und in seiner Bewußtlosigkeit nach Luft rang.
    Sobald er seine Waffen wieder geladen hatte, ging er auf die Treppe zu und versuchte, draußen etwas zu sehen. Die Nacht war so schwarz, daß er nichts erkennen konnte. Gerade wollte er sich etwas weiter vorwagen, als er die Bretter über seinem Kopf knarren hörte und begriff, daß dort oben ein Wolf auf ihn lauerte. Er schoß, und die Bleikugel durchschlug zwar nicht die dicken Bretter, doch das Tier erschrak und sprang vom Schafott. Mit der zweiten Pistole schoß Justinien in seine Richtung, doch er traf ihn nicht.
    Er lud die Pistolen erneut und hielt sich für einen zweiten Angriff bereit, der jedoch ausblieb. Also richtete er den Bretterschutzwall wieder auf und verstärkte ihn mit der Bank, dem Tisch und der Truhe. Dann wollte er dem bewußtlosen Wolf die Kehle durchschneiden, doch er brachte es nicht übers Herz. Obgleich das Tier mager war, war es doch sehr schön. »Wölfe sind Hunde, die in Freiheit leben«, hatte Martin mit bewundernder Stimme über sie gesagt. Justinien legte ihm eine Schlinge um den Hals und band ihn an dem Mittelpfeiler fest, der den Boden des Schafotts abstützte.
    Dann warf er sich erschöpft auf sein Bett und schlief wieder ein. Draußen brach der Himmel auf, und es begann zu regnen. Zunächst waren es nur einige Tropfen, doch bald schüttete es wie aus Kübeln. Der Regen drang zwischen den Brettern hindurch und tropfte ins Innere. In den Falten der Plane bildeten sich Pfützen, die Kerzen erloschen, und Justinien schreckte durchnäßt aus dem Schlaf auf.
     
    Gegen das Gewitter konnte er nichts unternehmen, und es blieb ihm nichts anderes übrig, als abzuwarten und seine verderblichen Lebensmittel in Sicherheit zu bringen.
    Als es Tag wurde und Maître Calzins und seine Leute die Kreuzung der Quatre-Chemins erreichten, glaubten sie, ihren Augen nicht zu trauen: Sie entdeckten den Scharfrichter (in der Stadt sprach man von nichts anderem als von ihm), der einem riesigen grauen Wolf von etwa drei Jahren, den er an dem Mast festgebunden hatte, Fleischstücke zuwarf. Diese schnitt er aus den Überresten des halb verschlungenen Mietpferdes des Mietstalls Calmejane.
     
    So verliefen der erste Tag und die erste Nacht des Scharfrichters von Bellerocaille, Justinien Pibrac, der inzwischen zum Vorfahren und Begründer der ältesten und bemerkenswertesten Henkerdynastie unserer Zeit geworden ist.
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
    ZWEITER TEIL
     
    1
     
    Bellerocaille, Hauptkantonsort im Departement
    Aveyron, Mai 1901
     
    »Ein Karren, der zuviel Mist geladen hat, ist auf der Straße umgekippt, Monsieur Pibrac. Der Weg ist bis zur Pont de la République versperrt.«
    Léon warf dem Kind eine kleine Münze zu und wendete seinen Wagen, der von einem stämmigen Pferd gezogen wurde. Er fuhr die Rue Droite wieder hinauf, bog in die Rue du Dragon ein und kam erneut an der Bäckerei vorbei, die er gerade erst verlassen hatte. Seit dem Tod seines Schwiegervaters Arsène Bouzouc, der jetzt drei Jahre zurücklag, war Léon Herr über die Backstube. Doch er hatte sich noch immer nicht entschließen können, das Ladenschild der Bäckerei Arsène Bouzouc auszuwechseln, sondern hatte sich damit begnügt, ihm den Hinweis »Konditorei« hinzuzufügen.
     
    Er sah in die Bäckerei, wo seine Frau Hortense gerade die Magd des Bürgermeisters bediente. Jetzt entdeckte auch sie ihn, hinkte zur Tür und warf ihm einen fragenden Blick zu.
     
    »Die Rue Droite ist versperrt, ich werde die Straße an der Burg nehmen«, erklärte er und fügte in fast flehendem Ton hinzu: »Bitte, Hortense, überwinde dich doch und komm mit mir zum Herrenhaus. Deine Mutter kann sich doch ausnahmsweise einmal um den Laden kümmern.«
    »Ich habe nein gesagt, und dabei bleibt es.«
    Als sie ihm den Rücken kehrte und zu ihrem Tresen zurückhumpelte, war ihr Gesicht noch verschlossener als sonst.
     
    Trotz ihrer fünfunddreißig Jahre war Hortense noch schlank, doch sie kämpfte jeden Tag gegen die Beleibtheit an, indem sie sich zahlreiche Entsagungen auferlegte.

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