Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die rechte Hand Gottes

Die rechte Hand Gottes

Titel: Die rechte Hand Gottes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Folco
Vom Netzwerk:
geschickt umgebaut, um unabhängig zu sein für den Fall, daß ihm während seiner zahlreichen Reisen durch das Département die Herbergswirte die Unterkunft verweigerten. Die Guillotine und das Zubehör fanden Platz in einer eigens dafür eingerichteten Verschalung unter dem Boden des Wagens und ließen so im Inneren ausreichend Platz für eine Schlafstelle, einen kleinen Wohnbereich, eine Waschecke und eine bescheidene Kochstelle. Der so hergerichtete Krankenwagen war kaum benutzt worden, denn zwei Jahre nach seiner Fertigstellung hatte das Dekret Crémieux seinen Einsatz überflüssig gemacht.
    Léon begrüßte sie und half ihnen.
    »Hortense ist leidend, sie bittet ihre Abwesenheit zu entschuldigen«, sagte er kläglich.
    Wider Erwarten ging niemand auf diese Lüge ein. Sie kannten seine Frau zur Genüge und wußten, daß es ihr lieber gewesen wäre, eine prall gefüllte Börse zu verlieren, als auf dem Weg zu ihrer unstandesgemäßen Schwiegerfamilie gesehen zu werden.
    Dabei würden heute Henri, Adèle und ihre Kinder Antoine und Saturnin das Herrenhaus verlassen, um sich von Bordeaux aus nach Amerika einzuschiffen. Hortenses Hilfe wäre in der Küche sehr willkommen gewesen, wo Berthe, trotz ihrer angegriffenen Gesundheit, das letzte gemeinsame Essen vorbereitete. » Ihr Herz ist wie ein gesprungener Topf. Der kann auch hundert Jahre halten, wenn man ihn pfleglich behandelt«, hatte der Arzt nach ihrem ersten Schwächeanfall im letzten Winter festgestellt.
    Als der Wagen schließlich in der Mitte des Hofes stand, klappte Hippolyte das Trittbrett aus und kletterte behende hinein, um die Luken zu öffnen und durchzulüften.
    Man sah Hippolyte seine fünfundsechzig Jahre nicht an; allein die Vorstellung, zu altern, entrüstete ihn derart, daß er sein Bestes tat, um den verräterischen Anzeichen entgegenzuwirken. Als er im Alter von vierunddreißig Jahren an seiner rechten Schläfe das erste weiße Haar entdeckt hatte, war er äußerst erstaunt gewesen und ebenso wachsam wie Robinson Crusoe, als dieser einen menschlichen Fußabdruck auf der verlassenen Insel ausmachte. Er hatte das Haar ausgerissen. Doch als weitere auftauchten, änderte er seine Taktik und begann, sie zu färben. Ebenso hielt er es, als sich in seinem Schnauzer und in dem W-förmigen Kinnbart die ersten weißen Fäden zeigten.
    Léon ging zu seinem Karren zurück und zog unter dem Sitz einen Beutel hervor, der fünfpfündige, noch warme Brotlaibe enthielt und eine Keksdose, die mit seinem Honigbrot gefüllt war, das ihm die Begeisterung seiner Kundschaft und den Neid von mehr als zwanzig anderen Bäckern und Konditoren von Bellerocaille eingetragen hatte.
    » Hier, für die Reise «, sagte er und hielt seinem Bruder den Beutel hin.
    »Danke, Léon. Dein Brot und dein Kuchen ist sicherlich das, was uns dort unten am meisten fehlen wird.«
    »Dort unten«, das war Kalifornien. Schon vor einem Jahrhundert waren andere Zweitgeborene der Pibracs ausgewandert, deren Nachkommen Henri jetzt dort erwarteten.
    » Ich habe Adèle das Rezept gegeben. Sie wird euch welche backen.«
    Gemeinsam gingen sie in die Küche des Herrenhauses. Léon küßte Berthe, seine Mutter, die Kartoffeln schälte und gleichzeitig das Zicklein überwachte, das am Spieß über der Feuerstelle hing. Als sie sich wunderte, daß Hortense ihn nicht begleitete, errötete er und wiederholte seine Lüge. Dann setzte er sich ihr gegenüber, klappte sein Taschenmesser auf und schälte eine Kartoffel. Henri ging zu Adèle und den Kindern, die in ihrem Zimmer letzte Hand an das Gepäck legten. Er schloß die Truhen und Koffer und rief durchs Fenster die Brüder Lambert, damit sie ihm beim Heruntertragen und Beladen des Wagens halfen.
    Das Essen fand in einer Stimmung gezwungener Heiterkeit statt. Berthes Augen wurden jedoch feucht, sobald ihr Blick auf Antoine und Saturnin fiel, die sie nicht wiedersehen würde. Sie waren fünf und sechs Jahre alt, aßen mit gesundem Appetit und stritten sich darum, wer von beiden Griffu, dem riesigen Wachhund, der mit ihnen aufgewachsen war, die Knochen des Zickleins vorwerfen dürfe. Und wenn auch Hippolyte mit fröhlicher Stimme alle Pibracs aufzählte, die schon vor ihnen ausgewandert waren, so kam die Freude doch nicht von Herzen.
    »Und wenn der Sechste nicht so früh gestorben wäre, dann hätte sicherlich auch ich dazugehört. Ich hätte mich allerdings in Australien niedergelassen.«
    Dann kam der gefürchtete Augenblick des Abschiednehmens. Alle

Weitere Kostenlose Bücher