Die rechte Hand Gottes
Ihr Wesen - von Geburt an verbittert, da ihr eines Bein kürzer war als das andere - wurde allerdings dadurch nicht gerade heiterer. Diese Behinderung hatte ihr die Jugend verdorben, und sie wäre dazu verdammt gewesen, ihre Tage als alte Jungfer zu beenden, wenn nicht Léon, der Lehrling ihres Vaters, sie vor vierzehn Jahren geheiratet hätte. Sie hatte zwei Töchter und einen Sohn geboren, die Gott sei Dank nicht verunstaltet waren. Und Léon war es gelungen, den Umsatz der Bäckerei zu verdreifachen, indem er durch seine Feinbackwaren erheblich mehr Kundschaft angezogen hatte. Dennoch war Hortense nicht glücklich, im Gegenteil ... Wie sollte sie jemanden lieben, der sie nur genommen hatte, weil er »nichts Besseres« gefunden hatte? Im ganzen Aveyron wollte zwar niemand eine Hinkende, selbst wenn sie hübsch war, doch wer hätte schon einen Pibrac gewollt?
Léon gab seinem Pferd die Peitsche, und der Karren setzte sich wieder in Richtung Rue Mange und Rue du Paparel in Bewegung. Die Leute, denen er begegnete, wandten den Blick ab oder murmelten mit spitzen Lippen einen Gruß. Einige, zumeist ältere Menschen, bekreuzigten sich, und ihre Hand umschloß eilig das Medaillon mit dem Bildnis des Heiligen Benedikt... Es hatte sich nichts geändert!
Léon war der erste seines Geschlechts, der sich mit einem Mädchen aus der Gegend vermählt, sich von der Tradition abgewandt hatte und versuchte, sich in die städtische Gemeinschaft einzufügen. Wie hatte sich dieses scheue und schüchterne junge Mädchen, das ihn so sehr gerührt hatte, in ein so scheinheiliges, herrschsüchtiges Weib verwandeln können? Was war geschehen? Daß er ein Pibrac war, erklärte noch nicht alles ... Vielleicht hatte sie die Hartnäckigkeit der Vorurteile unterschätzt, die noch immer fortbestanden, obwohl sein Vater Hippolyte Pibrac der Siebte sich gezwungenermaßen schon vor dreißig Jahren in den Ruhestand begeben hatte. Das Dekret Crémieux hatte 1870 die Kommissionen in den Provinzen ihres Amtes enthoben und dem Scharfrichter der Hauptstadt das alleinige Recht zugesprochen, Hinrichtungsurteile zu vollstrecken.
Sein Wagen verließ die Rue Magne und bog vorsichtig in die abschüssige Rue du Paparel ein. Diese führte an der Burg derer von Boutefeux entlang, die seit ihrer Plünderung im Jahr 1792 leerstand. Jetzt beriet man darüber, sie wiederherzurichten, um dort das städtische Museum unterzubringen, das sich jetzt noch auf recht beengtem Raum im Rathaus, dem vormaligen Amtsgebäude des Prévot, befand.
Eine Familie von Holzsammlern näherte sich. Beladen wie die Packesel, quälten sie sich den Berg hinauf, und er mußte am Straßenrand anhalten, um sie vorbeizulassen. In Scharen verließen die früheren Bergbauern die ausgedorrte Hochebene von Ségala und von Aubrac, um Reisig zu sammeln und in der Stadt zu verkaufen, was allerdings große Unzufriedenheit bei den Holz- und Kohlehändlern auslöste, die von nicht zulässigem Wettbewerb sprachen. Der Stadtrat, der jetzt in den Händen der Republikaner (der » Roten «) war, ließ sie gewähren.
» Nur zehn Sous das Bündel! Damit wir nicht den Berg rauf müssen!« rief ihm ein Mann in seiner rauhen Mundart zu.
Léon lehnte voller Bedauern ab. Sein Backofen verbrauchte viel Holz, und er hätte keinesfalls einen so guten Preis ausgeschlagen, wenn nicht am Vortag plötzlich - was noch nie geschehen war - Doktor Octave Beaulouis, der Führer der Konservativen (der »Weißen«), mit einem breiten Lächeln seinen Laden betreten hätte.
»Ich möchte Sie um zwei Gefälligkeiten bitten, mein Guter.«
Léon hatte den Doktor, der zu den Honoratioren der Stadt gehörte, mit großen Augen angesehen.
»Mich?«
»Aber ja, Sie.«
Der erste Gefallen bestand darin, kein Holz mehr bei den Reisigsammlern zu kaufen, und der zweite, eine Petition zu unterzeichnen, um Barthélemy Boutefeux, den »roten« Bürgermeister zu zwingen, endlich Maßnahmen zu ergreifen,
um das tägliche Eindringen dieses Bettelpacks zu unterbinden.
»Am Anfang haben sie sich ja damit begnügt, aufzusammeln, was am Boden lag, aber jetzt brechen sie ganze Äste ab und verwüsten den Wald von Ribaudins, um nur ein Beispiel zu nennen.«
Léon stotterte einige ungeschickte Sätze über die »besondere Ehre«, seinen Namen unter die der Notabeln der Stadt zu setzen, und unterzeichnete die Petition. Er war nicht sonderlich erstaunt, festzustellen, daß die erste Unterschrift vom Präsidenten der Vereinigung der
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