Die Regenbogentruppe (German Edition)
eines geradezu unheimlichen Phänomens. Die hochgetürmten Berge auf den drei Tischen waren in weniger als einer Minute verschwunden, in genau fünfundzwanzig Sekunden. Wem es gelang, auf einen der Tische zu klettern, musste blitzschnell alles, was er packen konnte, seinem unten wartenden Kollegen zuwerfen. Wer oben war und im Alleingang handelte, steckte ebenso schnell alles Erreichbare in einen Sack. Manchmal passierte es, dass einer seinen Sack nicht mehr von der Stelle bewegen konnte, weil er zu schwer war.
Mehrere Männer balgten sich um ein und denselben Gegenstand mitten auf einem der Haufen. Dann purzelten sie übereinander, fielen rückwärts und stürzten auf die Erde. Wer keinen Sack mitgebracht hatte, stopfte einfach alles in seine Hosentaschen oder unters Hemd, sodass manche aussahen wie Zirkusclowns. In diesem Kampf konnte keiner mehr klar denken. Selbst Reiskörner und losen Zucker stopften sie sich in die Taschen, und wenn die Taschen voll waren, dann kurzerhand in den Mund. Sie aßen es einfach auf, noch auf dem Tisch. Sie hätten es sich auch in die Nase oder ins Ohr gesteckt, es war unglaublich!
Wer etwa das Glück hatte, ein Transistorradio zu erbeuten, der durfte nicht hoffen, es heil nach Hause zu bringen, denn es wurde sofort von fünfzehn Leuten zugleich gepackt, sodass ihm nichts weiter blieb als der Drehknopf oder die Antenne. Es war ihm egal, wenn er nur den Knopf hatte, Hauptsache, kein anderer bekam das ganze Radio. Dass das Radio nicht mehr zu gebrauchen war, spielte dabei keine Rolle. Beim Sembahyang Rebut offenbarte sich die menschliche Habgier. Der Brauch ist der unwiderlegbare Beweis für die Ansicht der Anthropologen, dass Egoismus, Habgier, Zerstörungswut und Aggression die Grundeigenschaften des Homo sapiens sind.
In weniger als dreißig Sekunden war das Sembahyang Rebut , auf das die Leute das ganze vergangene Jahr gewartet hatten, vorbei und hinterließ eine dichte Staubwolke, eine Reihe von Schwerverletzten und zerborstene Tische – gebrochen wie mein Herz.
*
Fast fünf Stunden hatte ich inzwischen gewartet, vom Abendgebet bis Mitternacht. Aber A Ling war nicht gekommen. Sie hatte ihr Versprechen nicht gehalten. Vielleicht knabberte sie gerade Bohnensprossen und hatte die Verabredung vergessen. Konnte sie sich denn nicht vorstellen, was die Botschaft auf der Kreideschachtel für mich bedeutete?
Ich war es leid, dem malaiischen Lied Gelang Sipatu Gelang zuzuhören, das immer gespielt wird, wenn ein Fest vorbei ist und die Leute aufgefordert werden, heimzugehen. Gelangweilt sah ich den Händlern zu, wie sie ihre Sachen aufräumten. Traurig blickte ich hinter den Leuten her, die nach Hause gingen. Meine Hoffnung war zunichte geworden. Ich war nicht mehr als eine Eule, die sich nach dem Mond sehnt, ein unglücklich Verliebter.
Ich wollte aufs Fahrrad steigen, so schnell wie möglich losfahren und mich in den Lenggang stürzen. Doch als ich nach dem Lenker griff, hörte ich hinter mir eine Stimme, so sanft wie Tofu. Die wundervollste Stimme, die ich in meinem Leben gehört hatte.
»Wie heißt du?«
Ich fuhr herum, und im selben Moment sank der Boden unter meinen Füßen weg.
Ich konnte kein einziges Wort herausbringen. Vor mir, nur drei Meter vor mir, stand sie, die ersehnte A Ling!
Sie war aus einer völlig anderen Richtung gekommen, als ich gedacht hatte. Die ganze Zeit über war sie im Tempel gewesen und hatte mich von dort aus beobachtet. Drei Jahre lang kannte ich sie nun, genauer gesagt ihre Fingernägel, und vor sieben Monaten hatte ich zum ersten Mal ihr Gesicht gesehen. Nachdem ich Dutzende von Gedichten an sie geschrieben und lange Zeiten voller Sehnsucht verbracht hatte, erfuhr sie erst heute Abend, wie ich hieß.
Ich war so nervös wie in der ersten Koranstunde.
Sie lächelte mich an, es war ein zauberhaftes Lächeln. Sie trug ein Chong Kiun , ein wunderschönes Festkleid. An diesem Juniabend war die Venus des Chinesischen Meeres auf die Erde herabgestiegen. Das Gewand folgte ihrer schlanken Figur vom Hals bis zu den Fesseln. Ihre Füße steckten in hellblauen Holzsandalen.
In diesem Augenblick spürte ich ihre Überlegenheit. Für mich war A Ling eine unerreichbare junge Frau, die immer jemand anderem gehören würde. Für sie war ich nicht mehr als ein Eintrag in ihrem Kalender, in einer Woche wieder vergessen.
Sie schien meine Gedanken lesen zu können. Sie fasste nach ihrer Kiang Lian , ihrer Halskette. Daran hing ein Stein aus Jade mit eingravierten
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