Die reinen Herzens sind
Schwangerschaft hat sie gegessen, unaufhörlich. War wohl das erste Mal seit Jahren, daß sie sich normal ernährt hat. Zum Zeitpunkt der zweiten Fehlgeburt hatte sie zwanzig Kilo zugenommen. Aber das war ihr egal. Sie hatte die Modelkarriere satt, zu der ihre Mutter sie praktisch gezwungen hatte. Sie hat New York verlassen und ist hierher gekommen.«
»Ist sie ursprünglich aus New York?«
»Nein, aus Berkeley. Ihre Eltern haben sich scheiden lassen, als sie noch ein Kind war. Ihre Mutter hat sie nach Manhattan mitgenommen, damit sie dort als Model arbeiten konnte. Die Sommer hat sie mit ihrem Vater verbracht. Aber als ihre Karriere so gut lief, hat sie ihn nicht mehr besucht. Sie haßt ihre Eltern. Das kam immer deutlich durch.«
»Reizende Familie.«
»Ich denke, sie hat keine schöne Kindheit gehabt. Mit einem ehrgeizigen Biest als Mutter … und einen Frauenheld als Vater. Wir haben eine ganze Weile über Scheidungen gesprochen. Und wie hart es für die Kinder sein kann.«
Cindy begann Nägel zu kauen.
»Es ist auch unter den besten Voraussetzungen eine herbe Erfahrung. Meine Eltern wollten wirklich alles von mir fernhalten, aber die Feindseligkeit zwischen den beiden war jedesmal spürbar, wenn Dad mich fürs Wochenende abgeholt hat.
Das wurde besser, nachdem Mom wieder geheiratet hatte. Jedenfalls sind sie höflicher miteinander umgegangen. Aber da ist keine Liebe mehr zwischen den beiden. Das tut weh … und das Leben geht weiter. Man kommt drüber weg. Man erkennt, daß Eltern Fehler machen und trotzdem gute Menschen sein können. Ich glaube, Tandy ist nie bis zu dieser Einsicht gekommen. Sie redet von der Scheidung ihrer Eltern, als habe sie gestern stattgefunden.«
»Hat sie die ›Fehler‹ ihrer Eltern genauer beschrieben?«
»Ja. Sie hat immer wiederholt, daß ihre Mutter eine vom Ehrgeiz zerfressene Frau sei, die sie zur Modelkarriere gezwungen habe. Ihren Vater hat sie als einen jämmerlichen Schürzenjäger beschrieben, der seinen Hosenschlitz nicht geschlossen halten konnte. Sie war froh, die Sommer nicht mehr bei ihm verbringen zu müssen, weil er mit fortschreitendem Alter immer zügelloser wurde, immer jüngere Studentinnen vernascht hat.«
»Er war College-Professor?«
»Ja. Für englische Literatur. Geoffrey Roberts. Muß ein ziemlicher Lackaffe sein. Ist ursprünglich kubanischer Abstammung. Tandy hat die dunkle Haut und das Haar von ihm geerbt. Seine Eltern waren eingewandert. Er hat seinen Namen anglisieren lassen.«
Cindy merkte, daß sie Nägel kaute, und legte die Hände in den Schoß.
»Muß verdammt peinlich sein, einen Vater zu haben, der sich auf diese Weise zum Narren macht. Mein Dad war wenigstens immer ein Vater. Auch nach der Scheidung hat er nie junge Mädchen aufgegabelt oder mit meinen Freundinnen geflirtet. Und wenn, dann nie in meiner Gegenwart. Meine Mom ist auch in Ordnung.«
Cindy lachte.
»Nur zusammen waren sie unerträglich!«
Marge tätschelte ihr die Hand.
»Ich misch mich nicht mehr ein, das verspreche ich«, seufzte Cindy. »Tandy hat mich das Gruseln gelehrt. Irgendwas stimmt nicht mit ihr. Die Scheidung der Eltern und die Fehlgeburten … Für mich hat sie einen Knacks weg. Sie redet dauernd davon, wie schlecht sie war und wie gut sie jetzt ist, weil sie Bodybuilding macht. Ich glaube, es ist das einzige, was sie davon abhält, durchzudrehen. Sie behauptet, es habe ihrem Leben wieder Sinn gegeben. Seitdem habe sie sich, ihre Eßgewohnheiten und schlechten Gedanken wieder unter Kontrolle.«
»Schlechte Gedanken?« wiederholte Marge.
»Waren ihre Worte.« Cindy überlegte kurz. »So komisch es klingt, ich kann sie verstehen. Nach dem Erlebnis heute im Studio … Den eigenen Körper zu Höchstleistungen zu treiben, hat was kolossal Befriedigendes. Jetzt tun mir sämtliche Muskeln weh, aber beim Training habe ich mich toll gefühlt. So als könne mir nichts und niemand was anhaben. Und auch wenn’s nur Illusion ist, gut tut es doch.«
Cindy lächelte flüchtig.
»Aber wir brauchen wohl alle unsere kleinen Illusionen, um mit dem Leben fertig zu werden. Kann ich jetzt gehen?«
Marge tätschelte Cindys Schulter. »Ja, du kannst jetzt gehen.«
29
Nach dem Mittagessen saßen Rina und Decker beieinander. Rina hatte Hannah auf dem Arm. Sie war guter Dinge, und sie beschlossen, den Aufenthalt der Säuglingsschwester im Haus abzukürzen. Nora sollte über das Wochenende noch bleiben und die Jungen am folgenden Montag zur Schule bringen. Bis dahin
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