Die reinen Herzens sind
und meine Familie immer ein Fels in der Brandung gewesen.«
»Freut mich, Rina Miriam. Hast du dein Baby schon gesehen?«
»Sie wollen nicht … Ich habe noch Fieber. Das Baby könnte was aufschnappen.«
»Es wird dir helfen, wenn du dein Kind bei dir haben kannst.«
Rina starrte weiter zur Decke, feuchte Spuren auf den Wangen. »Ich habe drei gesunde Kinder, Baruch Haschern. Ich sollte mich nicht so anstellen.«
»Bitte keine Selbstbezichtigungen! Das sind normale, menschliche Gefühle. Nirgendwo in der Tora steht geschrieben, daß wir Trauer und Glück, Wut und Zweifel nicht empfinden dürfen.«
Rina nickte. »Ich bin wütend auf Gott«, flüsterte sie.
»Auch ich war wütend auf Gott. Er ist stark. Er nimmt unseren Ärger nicht persönlich.«
Rina lächelte unwillkürlich und war selbst am meisten darüber überrascht.
»Du bist keine unverständige Person, Rina Miriam«, fuhr Rabbi Schulman fort. »Du solltest dankbar für deine drei gesunden Kinder sein. Und du bist dankbar. Aber ich könnte mir vorstellen, daß du auch traurig bist, weil nicht du, sondern ein Chirurg die Zahl deiner Kinder bestimmt hat. Aber welche Kontrolle haben wir schon wirklich über unser Leben? Das Leben ist eine Leihgabe Gottes. Sein Wille hat uns auf diese Erde gebracht und wird uns dereinst auch wieder abberufen. Wenn Tod wie Leben ein Teil des göttlichen Plans sind, warum sagen wir dann Bittgebete für die Kranken? Glauben wir wirklich, daß unsere Gebete Gottes Wege ändern können?«
Der Rabbi hob einen Finger.
»Die Antwort ist, ja, das können sie. Wir glauben an einen persönlichen Gott – einen Gott, der zumindest unseren Gebeten zuhört. Wir begreifen den Plan Gottes nicht bis in seine letzte Konsequenz. Aber das bedeutet nicht, daß wir nicht bitten dürfen. König David wußte, daß sein Erstgeborenes ein Kind der Sünde war. Es war prophezeit worden, daß das Kind nicht leben würde, und die Worte kamen aus dem Munde des Propheten Nathan. Und doch fastete und betete David, Haschems Auserwählter, zu seinem Gott, das Kind zu verschonen.«
»Ohne Erfolg«, sagte Rina.
»Ja, ohne Erfolg. Aber David versuchte es. Es gibt Zeiten, zu denen Haschern bereit ist, von seinen ursprünglichen Plänen Abstand zu nehmen, Zeiten, in denen er selbst die schlimmsten Sünden vergibt. Unsere Gebete sind keine leeren Worte, Rina Miriam. Auch wenn die Welt gerade sehr dunkel aussehen mag, hat Haschern für dich ein offenes Ohr. Du kannst fragen. Vielleicht wirst du nicht erhört, aber du kannst fragen.«
Rinas Hand berührte die Klammer über ihrer Operationswunde. Um ihr Leben zu retten, hatten sie ihr die Möglichkeit genommen, Leben zu geben. »Ich will keine … ich erwarte keine Wunder. Ich weiß …« Ihre Augen wurden feucht. »Ich kann keine Kinder mehr bekommen. Und ich werde lernen, das zu akzeptieren. Aber im Augenblick will ich nur, daß die Wut vergeht. Es tut weh, so wütend zu sein.«
Schulman tätschelte ihre Hand. »Du bist sehr müde. Ruh dich aus, solange du es noch kannst. Es ist schließlich nicht so lange her, als daß du vergessen haben könntest, wie viel Kraft es kostet, einen Säugling zu versorgen.«
»Rabbi Schulman …«
»Ja?«
»Diese Stelle über König David? Etwas daran hat mich immer gestört.«
»Ja?«
»David weinte und fastete und betete und klagte, bevor das Kind gestorben war. So als ob er seine Trauer vorwegnehmen würde.«
»Das ist richtig.«
»Aber hinterher, da stand er auf, wusch, kleidete und salbte sich. Wäre nicht eine Art Trauerritual zu erwarten gewesen, hinterher, nachdem das Kind gestorben war?«
»Ja, das wäre zu erwarten gewesen. Und Davids Verhalten erstaunte seinen Diener so sehr wie dich. Es gibt verschiedene Erklärungen für diese Frage. Die Erste: Erst nach dreißig Tagen gilt ein Kind als am Leben, es wäre also unrecht von David gewesen, nach dem biblischen Gesetz zu trauern. Zweitens: König David hat tatsächlich um seinen Sohn getrauert. Die entsprechende Stelle in der Schrift – ›und er erhob sich von der Erde‹ – verweist auf die traditionellen sieben Trauertage.«
Der Rabbi atmete tief ein und zupfte mit den Fingern an seinem Bart.
»Die dritte Interpretation stammt von Rabbi David Kimchi – und beinhaltet, worüber wir soeben sprachen: Daß Davids Fasten vor dem Tod des Kindes ein Gebet an Haschern war, es zu verschonen. Aber nachdem das Kind gestorben war, sah David den Willen Gottes und zeigte seinem Königreich, als er seine Trauer
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