Die reinen Herzens sind
möchte nur nicht in Rinas Abwesenheit darüber sprechen.«
»Das verstehe ich. Ich wollte nicht neugierig sein.«
Decker legte den Arm um seine Tochter. »Cindy, sag der Schwester, sie kann Hannah nach vorn holen. Dann gehst du nach Hause und schläfst dich aus. Danach kannst du wiederkommen. Ich brauche deine Hilfe … ehrlich.«
Cindy senkte den Kopf. »Ich helfe sehr gern. Es war schön, so mit dir zusammen zu sein. Wir beide haben wie Freunde miteinander gesprochen. Ich weiß, du bist mein Vater … trotzdem ist es nett, den Vater zum Freund zu haben, oder?«
Decker fuhr Cindy durch das kupferrote Haar. »Ja, sehr nett.«
Sie hatten sie in ein Krankenzimmer gebracht, ein Zeichen dafür, daß sie außer Lebensgefahr war. Jetzt war sie eine ganz normale Patientin. Man würde sie noch ein bis zwei Tage pflegen. dann konnte sie entlassen werden. Ungeachtet dessen, daß sie das Krankenhaus nur als ein Schatten jener Person verlassen würde, die es betreten hatte. Wenn ihr Herz schlug und sie normal atmete, würde man sie nach Hause schicken.
Sie sah Rabbi Schulman nicht an. Ein einziger Blick hatte genügt, um zu wissen, daß Peter es ihm gesagt hatte. Ein Teil von ihr fühlte sich verraten und wütend. Der andere Teil war erleichtert. Die schmerzlichen Gefühle waren zu erdrückend, um sie allein zu tragen. Warum wurde ihr das Glück stets entrissen? Nach Yitzchaks Tod hatte sie geglaubt, nie wieder lieben zu können. Aber Haschem hatte es besser gewußt. Sie war Peter begegnet, und sie liebte wieder. Es war ein Wunder.
Dann das.
Warum setzte Er sie ständigen Prüfungen aus? War ihr unerschütterlicher Glaube nicht genug?
Ohne daß sie es merkte, waren heiße, bittere Tränen in ihre Augen getreten. Sie starrte noch immer die Wand an. »Er hätte es Ihnen nicht sagen dürfen. Er hatte kein Recht dazu.«
»Ich habe gewußt, daß etwas Schlimmes geschehen war, Rina Miriam«, sagte der Rabbi leise. »Akiva hat mir nur die besonderen Umstände geschildert.« Er hielt inne. »Vielleicht war es mein Fehler. Ich habe Akiva ganz gezielte Fragen gestellt. Entschuldige, daß ich deine Privatsphäre verletzt habe.«
Rina antwortete nicht. Statt wütend war sie nur noch schuldbewußt. Sie hatte Rabbi Schulman dazu gebracht, sich zu entschuldigen. Schwach und krank, vom Schmerz umhüllt wie von einem Kokon, wollte sie hundert Jahre schlafen.
»Ich möchte dir eine Refuah schelenah wünschen, Rina Miriam, eine schnelle Genesung. Tut mir leid, was du erdulden mußt. Man ist immer so hilflos, wenn nette Leute ein Unglück trifft. Es entspricht nicht unserem Gerechtigkeitssinn.«
Rina wandte sich dem Rosch Jeschiwa zu. Der Mann war Ende Siebzig, und sein Alter machte sich allmählich bemerkbar. Seine Haut war faltig, aber seine dunklen Augen waren klar wie immer. Er saß leicht vornübergebeugt, die Beine übereinandergeschlagen, die Hände mit den Leberflecken hielten über dem Knie den Rand seines Homburgs. Er trug den üblichen schwarzen Anzug mit Krawatte und weißem Hemd. Sein Bart war weiß wie sein Haar. Auf dem Haupt saß ein seidenes Scheitelkäppchen.
Rabbi Schulman war in Stimme und Ausstrahlung ein ruhiger, ein beruhigender Mann. Gleichgültig, was das Leben von ihm forderte, er hatte immer Zeit für die, die ihn brauchten. »Ich schätze, das ist nur ein kleiner Rückschlag im Lauf der Dinge«, sagte Rina und seufzte. Dann zog sie eine Grimasse, als ihre Narbe pochte. Sie hatte ihre Stimme wieder, doch ihr Hals war noch wund. »Es ist nicht der Holocaust.«
»Nein, es ist nicht die Shoah. Aber das bedeutet nicht, daß du kein Recht auf Trauer hast, Rina Miriam. Ich habe die Shoah durchlebt. Ich habe meinen einzigen Sohn verloren. Und doch bin ich noch immer ärgerlich, wenn ich meine Brieftasche verlege. Was sagt uns das über die menschliche Natur, frage ich?«
Rina sank in ihre Kissen zurück und starrte zur Decke. »Ich komme mir so … kleinlich vor, weil ich so … bitter bin.«
»Deine Operation war alles andere als ›kleinlich‹. Deine Bitterkeit ist verständlich.« Schulman fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Hast du Schmerzen? Brauchst du etwas?«
Rina sah auf die Infusion an ihrem Arm. »Nichts, danke. Der Arzt hat gesagt, daß ich zum Mittagessen schon eine richtige Mahlzeit bekommen kann. Nicht gerade aufregende Nachrichten. Aber mehr Neuigkeiten habe ich nicht.«
»Ich bin froh, daß du dich gut erholst.«
»Danke, daß Sie gekommen sind, Rabbi Schulman. Sie sind für mich
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