Die reinen Herzens sind
beendete – sich salbte, wusch und kleidete –, daß er den Willen Gottes akzeptiert, ganz gleich wie schmerzhaft er für ihn auch ist.«
»Also sollte ich aufstehen und mich waschen und mir ein neues Kleid kaufen, nicht wahr?«
»Keine schlechte Idee, sogar wenn du das nur im übertragenen Sinne meinst. Rina Miriam, du solltest das tun, was auch immer du tun mußt, um diese schwere Zeit zu überstehen. Wenn du trauern mußt, dann trauere. Wenn du wütend sein mußt, sei wütend. Wenn du vergessen möchtest, dann kannst du das ebenfalls. Der jüdische Glauben hat eine Menge Rituale, eine Menge unabläßlicher Verhaltensregeln. Aber er läßt auch Raum für persönliche Freiheit. Persönliche Freiheit und die damit einhergehende persönliche Verantwortung sind das, was diese Religion so schwierig machen. Sie sind aber auch das, was so viel Zufriedenheit in dieser Religion bereitet.«
11
Es war ein Härtetest. Cindy blieb aus purem Eigensinn wach. Wenn sie auch wackelig auf den Beinen und ihr schwindlig war, wußte sie doch, daß sie durchhalten würde. Während der Examensvorbereitungen hatte sich ihr Durchhaltevermögen schon einmal bewährt.
Es war kurz nach ein Uhr. Alles war in Ordnung. Stunde um Stunde war sie auf den Beinen gewesen. Sie erinnerte sich, daß ihr Vater zwei, ja manchmal sogar drei Tage lang durchgehend Dienst gehabt hatte. Ihre Mutter hatte sich stets darüber beklagt, wobei ein guter Teil ihres Ärgers der puren Sorge entsprungen war. Wie konnte ihr Vater nur mit so wenig Schlaf funktionieren? Aber Dad war von jeher ein Besessener gewesen. Ein Besessener seines Berufs.
Cindy hatte ein Nickerchen erwogen. Hannah war gerade eingeschlafen und mußte erst in zwei Stunden wieder gefüttert werden. Dann hatte sie sich dagegen entschieden, nachdem sie mit Dad über Marie und Darlene gesprochen hatte. Hannah war ihr zu wichtig. Schlaf konnte warten.
An diesem Punkt der Erschöpfung mißtraute Cindy allen, die in der Säuglingsstation Dienst hatten. Seltsame, gespenstisch anmutende Gestalten in Chirurgenkleidung, die Gesichter halb hinter einem Mundschutz verborgen, bevölkerten die Gänge. Um diese nächtliche Stunde neigte man dazu, wie im Spiegelkabinett die Umgebung in Zerrbildern wahrzunehmen.
Cindy war fest entschlossen, die wenigen Stunden bis zum Morgen zu überstehen. Dann war sie für Hannah nicht mehr verantwortlich. Am Vormittag durfte Rina das Krankenhaus verlassen. Und das Baby mit ihr. Dad hatte sogar eine Kinderschwester namens Nora engagiert. Und das, obwohl Cindy angeboten hatte, sich um Hannah zu kümmern, bis Rina wieder bei Kräften war. Aber so war eben ihr Daddy. Er sorgte sich, daß ihr dann nicht genügend Zeit blieb, sich zu amüsieren. Und wenn sie sich amüsierte, sorgte er sich um ihre Sicherheit.
Es war wie eine Berufskrankheit bei ihm, die Welt stets als Schlachtfeld zu sehen. Schon aus diesem Grund hatte sie beschlossen, sich erst einmal theoretisch mit der Kriminalistik auseinanderzusetzen. Trotzdem stellte sie es sich sehr aufregend vor, inmitten des Asphaltdschungels zu agieren.
Ein Uhr fünfzehn.
Alle Babys aus der Abteilung J waren wieder auf der Station. Aus dem Nebenraum drang ohrenbetäubendes Gebrüll. Symphonie aux Bébés ! Der Krach deutete darauf hin, daß Marie die üblichen Untersuchungen durchführte. Nicht, daß Marie besonders grob mit den Babys umgegangen wäre. Obwohl Cindy den Eindruck hatte, daß Darlene behutsamer vorging. Die Babys mochten die Prozedur einfach nicht. Sie haßten das Wiegen, weil die Schwester sie dann aus der warmen Decke wickelte und sie der kalte Luftzug auf ihrer Haut störte. Sie ließen sich nur ungern messen, weil sie dann auf dem Rücken liegend ihre Gliedmaßen ausstrecken mußten. Und erst das Drücken und Zwicken! Aber wehe, wenn ihnen mit einem Stich Blut aus der Ferse abgenommen wurde! Das war immer für einen hysterischen Anfall gut.
So etwas lernte man bald in einem Krankenhaus.
Das Geschrei der Kinder schien in dieser Nacht lauter zu sein als sonst. Aber vielleicht lag das an ihr. Bei Schlafmangel pflegten sich Geräusche besonders zu verstärken.
Cindy sah erneut zur Uhr. Der große Zeiger hatte sich ganze zwei Minuten weiterbewegt.
Zu müde, um zu lesen, blätterte sie eine Ausgabe des Scientific American durch. Der Zellaufbau einer seltenen Baumflechte jedoch vermochte sie kaum zu fesseln. Sie stand auf und sah in Hannahs Bettchen.
Das Baby schlief wie ein Murmeltier.
Cindy langweilte sich
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