Die reinen Herzens sind
tödlich. Eigentlich wollte sie den Schwestern nicht zur Last fallen. Sich wachzuhalten, ohne mit jemandem reden zu können, war ein Albtraum. Zumindest konnte sie versuchen, sich nützlich zu machen. Darlene war stets bereit, sie zu beschäftigen. Die Absicht, die dahinterstand, war teilweise nur zu offensichtlich. Darlene malte Cindy die Wunderwelt des Berufes Kinderschwester in den schönsten Farben aus, lobte sie bei allem, was sie tat, über den grünen Klee und sagte, was für eine patente Krankenschwester sie abgeben würde. Cindy nahm die Komplimente hin. Die Botschaft war jedoch verschwendet.
Ein Pflegeberuf übte nicht dieselbe Anziehungskraft auf sie aus wie Strafrecht und Kriminalistik.
Cindy starrte aus dem Fenster der Säuglingsstation. Sie massierte sich die Schläfen. Die ersten Anzeichen von Kopfschmerzen machten sich bemerkbar. Bei ihr wurde leicht eine Migräne daraus. Der Krach war daran schuld. Die Babys schrien um die Wette. Die Lautstärke war unerträglich.
Auf Zehenspitzen schlich sie zum Hauptraum der Säuglingsabteilung, den Blick auf die Bettchen gerichtet, die in Reih und Glied standen. Niemand war zu sehen, weder Marie noch Darlene oder eine der anderen Schwestern. Verzweifeltes Kindergeschrei hallte vielfach von den Wänden wider.
Cindy beschlich ein merkwürdiges Gefühl. Sie fröstelte.
Dann rief sie gegen das Geschrei laut »Hallo!«
Keine Reaktion.
Die Arme vor der Brust verschränkt, schlenderte sie zu den Bettchen. Die Windeln der kleinen Jackson waren durchweicht. Die Unterlage war feucht. Spencer Dole hatte sich völlig freigestrampelt. Die Decke lag über seinem Gesicht. Sogar der kleine Yamata brüllte. Er hatte auf seine Decke gespuckt. Das schwarze Haar war naß und klebrig.
Cindy nahm die Decke von Spencers Gesichtchen, wickelte ihn wieder ordentlich ein und legte ihn auf den Bauch. So gewärmt und in gemütlicher Lage, schlief der kleine Junge augenblicklich ein. Dann säuberte sie das Gesicht des kleinen Yamata mit einem sterilen Tupfer, hüllte ihn in eine saubere Decke und drehte ihn ebenfalls auf den Bauch. Das war die Lage seiner Wahl. Er schloß die dunklen Augen und glitt ins Babyschlummerland hinüber.
Cindy sah sich um. Allein und unsicher, wechselte sie der kleinen Jackson die Windel und hoffte, daß niemand kam und sie beschuldigte, sich an den Babys zu vergreifen. Sie wußte, daß sie kein Recht hatte, die Kleinen auch nur zu berühren, aber es war niemand da, den sie hätte fragen können.
Da stimmte doch etwas nicht.
Sie spähte durch die Glasfront der Schwesternstation von Abteilung J.
Gähnende Leere.
Wo, zum Teufel, waren Marie und Darlene?
Cindy sah auf die Uhr, sah durchs Fenster, sah zu den Babys hinüber. Der Kopf schwirrte ihr. Sie war unentschlossen. Schließlich ging sie auf die gelbe Linie zu. Dann wurde ihr klar, daß sie sterile Kleidung trug. Hatte sie die gelbe Linie einmal überquert, mußte sie sich umziehen, wenn sie wieder zu Hannah wollte. Sie wußte nicht einmal, wo die Schwestern die sterile Kleidung aufbewahrten.
Ihr Blick fiel auf das Telefon an der Wand. Rechts davon lag ein Telefonbuch. Sie wählte die Nummer des Schwesternzimmers. Das Rufzeichen ertönte endlos. Niemand meldete sich. Schließlich versuchte sie es in der Zentrale. Nach zehnmaligem Klingeln meldete sich eine Telefonistin. Cindy erklärte ihr die Lage und wurde daraufhin mit der Empfangstheke der Station verbunden. Niemand antwortete.
Darlene hatte erzählt, daß im Krankenhaus massiv an Personal gespart wurde. Aber das war lächerlich! Angenommen, Cindy wäre eine Patientin gewesen, die dringend Hilfe brauchte? Oder eines der Babys brauchte Hilfe? Cindy stellte sich plötzlich die schlimmsten Katastrophen vor.
Die Uhr zeigte drei Viertel zwei.
Plötzlich verging die Zeit wie im Flug.
Zwei erfahrene Schwestern taten angeblich Dienst, und es war keine Menschenseele zu sehen.
Was sollte sie tun?
Gib ihnen noch fünf Minuten.
Und was dann?
Um zwei Uhr versuchte sie es erneut mit einem Anruf an der Rezeption.
Keine Antwort.
Wo waren sie nur alle? Was, wenn ein Baby plötzlich Atemnot bekam?
Jetzt dachte sie bereits wie Dad.
Dad!
Guter alter Dad!
Sie würde ihn anrufen. Aber dann weckte sie Rina auf. Außerdem sollte Rina nichts von den Zuständen erfahren, die in der Säuglingsstation herrschten. Daddy hatte recht. Seltsam, daß Darlene und Marie die Babys einfach allein ließen. Trotzdem hätte sie in diesem Moment viel darum gegeben, die
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