Die reinen Herzens sind
nervös. Ich habe das für einen Test gehalten.« Darlene schüttelte den Kopf. »Es war nur eine freundliche Geste. Sie wollte mehr über mich erfahren, wissen, warum ich Kinderschwester werden wollte und ob ich Probleme habe, die ich mit ihr besprechen möchte.«
»Klingt gar nicht nach der Marie Bellson, von der ich gehört habe«, bemerkte Decker. »Die, die ich kenne, war unpersönlich und hatte Haare auf den Zähnen.«
»Marie kann ganz schön bissig sein. Wir stehen hier alle unter starkem Druck. Aber die Arbeit liegt ihr sehr am Herzen.«
Darlene hielt verwirrt inne. Decker fragte sie, was los sei.
»Das einzige Problem bei Marie war …« Darlene suchte nach Worten. »Nachdem ich alles gelernt hatte, hat sie jede persönliche Beziehung abgebrochen, hat mich nie wieder zu sich eingeladen und keine meiner Einladungen angenommen. Sie war freundlich bei der Arbeit, freundlich aber absolut sachbezogen. Jede persönliche Regung wurde abgewehrt.«
Darlene seufzte.
»Aber man muß Marie verstehen, Sergeant. Sie spart all ihre Energie für diejenigen auf, die sie wirklich brauchen. Und sie hat strenge Moralvorstellungen. Sie ist gottesfürchtig. Deswegen kann ich nicht glauben, daß sie diesem Säugling je etwas zuleide tun würde.«
»Wer sagt, daß sie vorhat, dem Kind etwas anzutun? Vielleicht hat sie das Baby nur gestohlen, um es als ihr eigenes aufzuziehen.«
»Nein, das glaube ich nicht.«
»Hatte Marie je eine Fehlgeburt?«
»Soviel ich weiß, war sie nie verheiratet.«
»Fehlgeburten haben auch ledige Frauen.«
Darlene wurde rot. »Von Fehlgeburten weiß ich nichts.«
»Eine Abtreibung?«
Darlene wurde dunkelrot. »Nicht daß ich wüßte.«
»Hat Marie je ein Kind verloren?«
»Keine Ahnung.«
»Was ist mit einem jüngeren Geschwisterkind?«
»Wenn Sie damit eine Motivation meinen, das Kind zu stehlen, dann sind Sie auf dem falschen Dampfer.«
»Warum sonst sollte sie ein Baby entführen?«
»Ich glaube einfach nicht, daß sie das getan hat.«
»Aber wo ist sie dann, Darlene?« drängte Decker. »Und wo ist das Baby?«
»Das weiß ich nicht.« Darlene fröstelte unwillkürlich. »Ich weiß es wirklich nicht.«
13
Es spielte keine Rolle, was sie sagte.
Es spielte keine Rolle, was er sagte.
Die Vergangenheit war irrelevant. Genauso wie die Zukunft.
Das Hier und Jetzt.
Das Hier und Jetzt.
Was war wichtig?
Wer war mit dem Herzen dabei?
Sie war mit dem Herzen dabei.
So hatte alles angefangen. Weil sie mit dem Herzen dabei war.
Die anderen waren es nicht, aber sie.
Sie war mit dem Herzen dabei.
Mit dem Herzen.
Mit Haut und Haaren.
Blumen nahmen jeden freien Raum ein, das hatte ein Krankenzimmer mit einem Sterbezimmer gemeinsam. Decker stellte seine Kaffeetasse ab und roch an einem Strauß gelber Rosen. Er zog eine Blüte heraus und reichte sie Rina. Rina nahm sie und legte sie in ihren Schoß. Ihr Blick war selbstvergessen in die Ferne gerichtet.
Als sie ins Krankenhaus gekommen war, hatte sie einen rosigen Schimmer auf den Wangen gehabt. Jetzt waren sie bleich und eingefallen. Decker setzte sich auf die Bettkante. Er nahm ihre Hand und küßte sie.
»Wie fühlst du dich?«
Rina betrachtete das Gesicht ihres Mannes, das von Anspannung und Sorge gezeichnet war. »Ich habe gerade die Sechs-Uhr-Nachrichten gesehen. Sie haben das Foto des Babys im Fernsehen gezeigt.« Sie senkte den Blick. »Du weißt schon, das Sofortbild des Neugeborenen, das im Krankenhaus gemacht wird. Die Decke im Hintergrund war dieselbe wie auf Hannahs Foto.«
Decker nickte.
»Oh, Peter! Und ich zerfließe vor Selbstmitleid!« Rina hielt die Tränen zurück. »Ich bin ein Idiot, daß ich nicht zu schätzen weiß, was ich habe.«
Decker drückte sanft ihre Hand. »Rina, du hast viel durchgemacht. Ist doch in Ordnung, wenn du dich schlecht fühlst. Ich kann’s dir nachempfinden. Ich finde, wir haben da beide einiges aufgebürdet gekriegt.«
»Im Vergleich mit dem, was diese arme Mutter mitmacht, ist das ein Pappenstiel.«
»Deine Operation war kein Pappenstiel, Liebes. Aber wenn wir schon die einzelnen persönlichen Höllen miteinander vergleichen, dann ist mir unsere Lage lieber als die von Lourdes Rodriguez.« Decker sah, wie Rinas Mundwinkel zuckten. Er zog ihren Kopf an seine Schulter. »Laß es raus, Liebes. Laß es einfach raus!«
»Ich fühle mich miserabel!«
»Hast du Angst?«
»Panische!«
»Ich auch.«
Rina hob den Kopf. »Wirklich? Du auch?«
»Es hätte nicht viel gefehlt.«
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