Die Reise in die Dunkelheit
wie er entstanden war. Kaum hatte der gepanzerte Gigant die Station verlassen, löste sich das Gedränge in kürzester Zeit auf. Die hysterischen Schreie verstummten, und allenthalben waren Seufzer der Erleichterung zu hören.
Nun, da die unmittelbare Gefahr vorbei war, veränderte sich das Verhalten der Menschen auf erstaunliche Weise. Viele bekreuzigten sich inbrünstig, andere verloren gar lobende Worte über den gnadenlosen Kämpfer gegen die Pest. Immerhin diente seine Mission einem guten Zweck, und für die Ausrottung der Seuche musste man eben ein paar Unannehmlichkeiten in Kauf nehmen …
Um das qualmende Häuflein mitten auf dem Bahnsteig machten die Leute einen großen Bogen.
Auf zittrigen Beinen ging Gleb zu den noch schwelenden sterblichen Überresten des Administrators. Der Gestank verbrannten Fleisches kratzte im Hals. Der Junge zog seine Windjacke aus und deckte damit den Leichnam zu. Dabei versuchte er, möglichst nicht hinzusehen. Er machte sich Vorwürfe, dass er, gelähmt von Angst, nichts unternommen hatte, um Pantelej zu retten. Es ging nicht in seinen Kopf, dass dieser umtriebige, unermüdliche Mann pestkrank gewesen sein sollte . A ber selbst wenn – eine derartige Grausamkeit rechtfertigte das noch lange nicht.
Der Junge schaute sich konsterniert um und betrachtete die Gesichter der vorbeieilenden Siedler. Manche sahen schläfrig aus, manche grimmig, manche besorgt, viele waren noch vom Schrecken gezeichnet. Doch Pantelejs Schicksal kümmerte keinen. Warum ließen diese Leute so etwas zu? Warum zitterten sie so um ihr eigenes Leben, während ihnen das anderer völlig egal war?
Noch eine Frage, auf die Gleb keine Antwort wusste. Und ausgerechnet jetzt war Taran nicht da. Der hätte ihm bestimmt erklären können, warum die Erwachsenen fremdes Leid so gleichgültig ließ.
Als wenn nichts gewesen wäre, verzogen sich die Einheimischen in ihre Zelte und Feldbetten, um bis zum Tagesanbruch weiterzuschlummern. Der Junge bekam gar nicht mit, dass er schon bald allein auf dem Hauptplatz des Bahnsteigs stand.
Nicht dass er Gromow besonders gut gekannt hätte . A ber er konnte doch nicht einfach so gehen. Während er seinen Gedanken nachhing, legte sich plötzlich eine Hand auf seine Schulter.
»Bald werden die Totengräber kommen. Du solltest das nicht mit ansehen.« Es war die ältere Frau mit der Strickhaube. Sie klopfte Gleb sanft auf den Rücken. »Komm, ich gebe dir was zu essen.«
Es war – gelinde gesagt – nicht der richtige Zeitpunkt, um ans Essen zu denken.
»Danke … Ich möchte nichts.«
Gleb versuchte, sich dezent zu entfernen, doch die alte Dame ließ nicht locker.
»Na, komm schon, Junge. Ich mache dir eine schöne Suppe heiß, und du gibst mir, was du genommen hast«, sagte sie mit einem pharisäerhaften Lächeln.
»Was meinen Sie?«, fragte Gleb wie vor den Kopf geschlagen.
»Das, was du gefunden hast … Bei dem Pestkranken da … Du treibst dich schon die ganze Zeit hier herum. Doch nicht zum Vergnügen, oder? Was war es, ha?« Die Frau zog mit der Fußspitze Pantelejs verkohlten Aktenkoffer zu sich heran, stieß den Deckel auf und schaute hinein. »Raus mit der Sprache, du kleiner Ganove, womit hast du dich bereichert?«
Der Junge trat einen Schritt zurück und schüttelte fassungslos den Kopf. Es war ihm unbegreiflich, wie jemand so herzlos sein konnte . A ngewidert verzog er das Gesicht.
Glebs Reaktion zeigte Wirkung auf die Frau. Sie stutzte und hielt sich plötzlich die Hand vor den Mund . A ls würde sie die haltlosen Anschuldigungen, die ihr in einem Anflug von Habgier entfahren waren, am liebsten wieder rückgängig machen. Dann senkte sie verlegen den Blick und lief davon.
Als über dem Bahnsteig die Lampen wieder angingen, um vom Anbruch des neuen Tages zu künden, war der Junge schon nicht mehr an der Station. Noch in der Nacht hatte ihn der Wachmann am Kontrollposten anstandslos hinausgelassen. Mit dem schmutzigen Halbwüchsigen, der sich bei der Leiche herumgetrieben hatte, wollte er nichts zu schaffen haben. Wer wusste schon, ob er sich nicht angesteckt hatte?
Während Gleb durch den Tunnel marschierte, war er innerlich immer noch aufgewühlt. Mehr als je zuvor hatte er das Bedürfnis, bei Taran zu sein und ihm von seinen Erlebnissen zu erzählen. Hinter dem breiten Rücken des Stalkers hätte er sich verstecken und wieder zur Ruhe finden können.
In den letzten paar Tagen hatte ihm diese winzige, postatomare Reliktwelt eine böse Überraschung
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