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Die Reise in die Dunkelheit

Die Reise in die Dunkelheit

Titel: Die Reise in die Dunkelheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Djakow
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Puschkinskaja rüber«, vervollständigte der Gitarrenspieler den Satz. »Der Tunnel geht irgendwo da drüben weiter, unter einer dicken Erdschicht. Du musst dir einen anderen Weg suchen.«
    Das war sie. Die Antwort auf jene Frage, die Gleb schon die ganze Zeit umgetrieben hatte – ob er nach Hause gehen und auf seinen Stiefvater warten oder zuerst sein Glück bei den Militärärzten versuchen sollte, um sich nach der Heilmethode für Tarans Krankheit zu erkundigen. Die Umstände sprachen nun eindeutig für die zweite Variante. Zumal die Ploschtschad Lenina höchstens ein oder zwei Stationen entfernt lag. Sein Stiefvater würde sich natürlich Sorgen machen, aber gute Nachrichten von der Medizinerstation wären ein paar Sorgenfalten allemal wert.
    »Tja, dann muss ich wohl umkehren. Vielen Dank für die Exkursion, Psycho.«
    Mit behutsamen Schritten zog sich der Junge vom Steg zurück . A ls er den Betonboden des Tunnels wieder unter den Füßen hatte, atmete er erleichtert auf. Im Gegensatz zu seinem Begleiter fand er den Großen Spalt eher beängstigend als faszinierend. Der Gitarrenspieler stand noch immer über dem Abgrund und schaute in die Dunkelheit hinab.
    »Warte nicht auf mich«, sagte er, ohne sich umzudrehen. »Ich bleibe noch ein Weilchen hier . A uge in Auge …«
    Gleb nickte und trottete davon. Er hatte in der Tat wichtigere Dinge zu tun, als sich mit diesem halb verrückten Grenzgänger abzugeben. Vor ihm war bereits der Bahnsteigrand zu sehen, als ihn ein diffuses Bauchgefühl veranlasste, sich noch einmal umzudrehen.
    Im schwachen Schein der Fackel lag der Steg. Leer . A ngestrengt spähte der Junge nach der Figur des Gitarrenspielers aus, doch der war wie vom Erdboden verschluckt. Entweder es lag am schummrigen Licht, oder …
    Gleb stand einige Sekunden lang unschlüssig da, doch dann verscheuchte er die unheilvollen Gedanken und marschierte quer über den Bahnsteig zum gegenüberliegenden Tunnel. Psycho war schließlich ein erwachsener Mensch. Er musste selbst klarkommen mit dem Chaos in seinem Kopf.
    Im Unterschied zu den Kontrollposten der Ploschtschad Wosstanija wurden die Zugänge zur Tschernyschewskaja nicht sonderlich streng bewacht. Der Wachmann hielt den kleinen Streuner für einen Einheimischen und ließ ihn ohne Weiteres durch . A llerdings drohte er Gleb an, ihm die Ohren lang zu ziehen, sollte er sich nochmals ohne Eltern weiß Gott wo herumtreiben.
    Die Station erinnerte an die heimische Moskowskaja : die vertrauten Gerüche einer schlichten Küche, dicht aneinandergedrängte Wohnbaracken, das fahle Licht der Deckenleuchten …
    Moskowiter gab es hier natürlich auch jede Menge. Doch an der Tschernyschewskaja ging es wesentlich entspannter zu als an der Ploschtschad Wosstanija , wo es von Patrouillen nur so wimmelte und man ständig misstrauisch beäugt wurde. Jene Station hatte der Junge wie ein grauer Schatten durchquert und glücklicherweise keine unnötige Aufmerksamkeit erregt.
    Der Grund für die angespannte Atmosphäre an der Wosstanija war die unmittelbare Nachbarschaft der verhassten Majakowskaja , die zur Primorski-Allianz gehörte. Bei irgendeiner Gelegen heit hatte Taran die verwickelte Geschichte mit dem gestohlenen Dieselgenerator erwähnt. Doch damals waren dem Jungen die Gerüchte über die Konflikte zwischen den Stationen wie spannende Märchen vorgekommen. Kein Wunder angesichts des bequemen und sorglosen Lebens, das er im Krankenhausbunker führte.
    Jetzt war es an der Zeit, sich an das wenige zu erinnern, was ihm der wortkarge Stalker über die Bewohner der Metro erzählt hatte.
    Über die Tschernyschewskaja selbst wusste Gleb nicht viel. Dass sie eine der am tiefsten gelegenen Stationen der Petersburger Metro war, beeindruckte ihn wenig. Wer unter der Erde geboren war, litt gemeinhin nicht an Klaustrophobie. Eher im Gegenteil: Je größer die Entfernung zur Oberfläche mit all ihren Schrecknissen war, desto ruhiger konnte man schlafen.
    Leider war dieses nutzlose Detail das Einzige, was Gleb zur Tschernyschewskaja einfiel. Er konnte von Glück sagen, dass er die Station noch vor der Sperrstunde erreicht hatte, denn kurz darauf wurden die Ein- und Ausgänge bis zum nächsten Morgen geschlossen. Bis zum nächsten fiktiven Morgen natürlich, denn der Tagesanbruch hier unten stand in keinerlei Zusammenhang mit dem Sonnenaufgang an der Oberfläche . A n den meisten Stationen hielt man den Tag-Nacht-Rhythmus künstlich aufrecht, um Strom zu sparen und eine gewisse

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