Die Reise in die Dunkelheit
schlecht ausgerüsteten Kinder war es höchste Eisenbahn, sich in die Metro zurückzuziehen.
Der Junge packte Aurora am Ärmel und zog sie zum Pavillon. Man durfte das Glück nicht überstrapazieren . A m Eingang blickten sich die Kinder noch einmal um und schlüpften erleichtert hinein.
Der Abstieg über die Rolltreppen verlief ohne besondere Vorkommnisse. Den Mutigen hilft das Glück, heißt es. Zumindest an diesem Tag hatte sich das für die beiden Streuner bewahrheitet. Sie mussten nur noch eine kleine Nervenprobe überstehen, als auf das vereinbarte Klopfzeichen an der hermetischen Tür niemand reagierte. Doch nach einigen Minuten des Wartens ertönte das ersehnte Knarzen des Schlosses, und ein verschlafener, brummiger Wachmann ließ sie ein.
Gleb und Aurora waren am Ende mit ihren Kräften. Die Dekontaminationsprozeduren und eine medizinische Untersuchung mussten sie trotzdem über sich ergehen lassen. Immerhin wurden weder Parasiten noch überhöhte Strahlenwerte festgestellt. Bevor die beiden dann endlich auf den Bahnsteig durften, mussten sie sich von einer Handvoll Patronen trennen. Die Moskowiter nahmen es sehr genau mit der Hygiene und ließen sich den entsprechenden Service teuer bezahlen.
Für die in der Flinte verbliebenen Patronen gönnten sich die Kinder ein bescheidenes Mahl und eine enge Schlafkammer im hiesigen »Hotel«. Nach dem endlos langen, ereignisreichen Tag mussten sie sich wenigstens ein bisschen ausruhen.
Nachdem Gleb sich herzhaft gähnend auf dem etwas angefaulten Strohhaufen ausgestreckt hatte, fielen ihm augenblicklich die Augen zu. Der erschöpfte Körper lechzte nach Schlaf, das Bewusstsein versank in wohliger Gedankenlosigkeit.
Auroras leise Stimme riss ihn aus dem Halbschlaf.
»Vielen Dank.«
»Wofür?«, fragte der Junge dösig.
»Für alles, was du für mich getan hast. Du hast mich aus der Zelle befreit … mich vor diesen Wilden gerettet … und mich an die Oberfläche geführt. Das war sehr wichtig für mich, glaub mir! Tut mir leid, dass du wegen mir so ein großes Risiko eingehen musstest.« Das Mädchen stockte und rang um die richtigen Worte. »Meine Mutter … Sie war lange krank … Bevor sie … Vor ihrem Tod hat sie immer davon gesprochen, dass sie in die Stadt zurückkehren will. Um den Himmel zu sehen. Und die Sonne. Diesen Wunsch musste ich ihr erfüllen. Es war ihr Letzter Wille, verstehst du? Ich konnte nicht anders!«
Gleb setzte sich auf und fasste Aurora beschwichtigend an den Schultern.
»Du hast alles richtig gemacht. Deine Mutter ist nach Hause zurückgekehrt. In die Stadt, so wie sie früher war. Wie auf den alten Fotos. Sie wird es gut haben dort.«
Diese einfachen Worte waren Balsam für Aurora. Mit einem dankbaren Lächeln rollte sie sich zusammen und schloss die Augen. Es dauerte nicht lang, bis Gleb sie tief und gleichmäßig atmen hörte.
Er dagegen konnte nach dem kurzen Gespräch nicht mehr einschlafen. Die Mühle in seinem Kopf war wieder am Mahlen. Er musste an seine eigenen Eltern denken, ohne die er sich so hilflos und verlassen gefühlt hatte … Bis Taran auftauchte, der sie beide ersetzte. Der ihm sowohl Lehrmeister als auch sorgender Vater war. Und manchmal auch einfach nur ein guter Freund, mit dem man über alles reden und den man immer um Rat fragen konnte.
Wenn er ihm wenigstens eine Nachricht schicken könnte … Aber wohin? Taran hatte von den Masuten gesprochen und von irgendeinem schwerwiegenden Problem. Womöglich hielt er sich immer noch an der Technoloschka auf und ahnte nichts von Glebs Verschwinden? Der Junge nahm sich fest vor, den Masuten so bald wie möglich einen Besuch abzustatten. Er tastete nach dem kostbaren Fläschchen mit der Medizin und sank in einen viel zu kurzen, unruhigen Schlaf.
Gar nicht weit entfernt, nur etwa sechzig Meter weiter oben, zerfleischten unterdessen wilde Hunde den dampfenden Kadaver eines Trepans. Dem gefährlichen Zweibeiner, der gerade einen verwundeten Artgenossen durch die Ruinen des Newski-Prospekts schleppte, waren sie lieber aus dem Weg gegangen. Er hatte ihnen die leckere Beute vor der Schnauze weggeschnappt. Es hatte nicht sein sollen …
Wie das Schicksal eben so spielt – dieser launische und unberechenbare Strippenzieher im Hintergrund. Mal ist er nachgiebig und sanft, lässt den Dingen ihren Lauf und gibt seinen Schützlingen das Gefühl, Herr der Lage zu sein. Doch meist ist er zu üblen Scherzen aufgelegt und erlegt uns eine Prüfung nach der andern auf.
Weitere Kostenlose Bücher