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Die Reise in die Dunkelheit

Die Reise in die Dunkelheit

Titel: Die Reise in die Dunkelheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Djakow
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geschmeichelt und lächelte dümmlich. »Grüß ihn auch von mir.«
    Der Trick funktionierte. Der einfältige Karpat fragte nicht einmal nach dem Woher und Wohin des Mädchens.
    »Lass sie durch«, sagte er mit wichtiger Miene zu seinem Kollegen. »Die kenne ich.«
    Nachdem die Kinder ohne Probleme den Kontrollposten und den von Händlern verstopften Übergangstunnel passiert hatten, kamen sie am Bahnsteig der Majak heraus. Die Unterschiede zur Nachbarstation waren subtil, aber allgegenwärtig. Die sauber abgegrenzten Durchgänge wurden penibel frei gehalten, und die platzsparende Anordnung der Wohn- und Arbeitsbereiche wirkte durchdacht. Die Bewohner unterhielten sich auffallend leise. Man merkte sofort, dass in der Primorski-Allianz ein strengerer Wind wehte.
    Als die beiden sich an den Eigenheiten der Majak sattgesehen hatten, wurde ihnen plötzlich wieder bewusst, in welch peinlicher Situation sie sich befanden.
    »Gib mir die Flinte«, sagte Gleb misslaunig. »Ein Wunder, dass sie uns am Eingang nicht abgenommen wurde.«
    »Weil sie nicht geladen ist.« Das Mädchen war froh, den schweren Schießprügel loszuwerden, und zum ersten Mal sah sie ihrem Begleiter wieder in die Augen. »Ich …«
    »Du wolltest dich einfach aus dem Staub machen«, fiel ihr der Junge ins Wort. »Und was ist mit unserer Abmachung?«
    Aurora seufzte. Sie wusste nicht, wie sie sich rechtfertigen sollte.
    »Allein schaffst du es sowieso nicht zurück. Du hast keine Papiere, kennst niemanden …«
    »Du verstehst überhaupt nichts!«, platzte das Mädchen heraus. Ihre Wangen röteten sich vor Zorn. »Ich habe gelogen, kapiert? Eden gibt es nicht und hat es nie gegeben! Glaubst du, ich hätte nicht durchschaut, dass der nervige Arzt dich vorgeschickt hat? Vergiss, was er dir erzählt hat. Das ist alles Unsinn. Märchen!«
    »Und woher hast du dann dieses Plastikkärtchen?«, gab Gleb angriffslustig zurück. Doch dann mäßigte er seinen Ton und versuchte es auf die milde Tour. »Hör zu. Ich weiß sowieso, dass Eden irgendwo unterhalb der Swjosdnaja liegt.«
    »Wie kommst du denn darauf?«, echauffierte sich Aurora.
    »Du hättest mal dein Gesicht sehen sollen, als Karpat von den Sträflingen an der Swjosdnaja erzählt hat! Wenn du Geheimnisse nicht für dich behalten kannst, solltest du dich eben nicht in der Metro herumtreiben!«
    Die Ausreißerin schwieg für längere Zeit und überlegte fieberhaft, wie sie sich verhalten sollte. Gleb wartete geduldig. Er hatte das Gefühl, dass sie die richtige Entscheidung treffen würde.
    »Wirst du mir denn helfen, dorthin zu kommen?«
    Der Junge nickte zufrieden und schulterte die Flinte.
    »Warum nicht gleich so? Der Weg ist weit. Vorwärts, verlieren wir keine Zeit … Judas!«
    Aufgrund der Transitabkommen innerhalb der Allianz gelangten die Kinder ohne Kontrolle in den Tunnel. Die Röhre zur Gostinka war beleuchtet und so stark frequentiert, dass sie dort kaum Gefahren zu fürchten hatten . A urora zeigte sich plötzlich gesprächig.
    »Dann hast du also die Bibel gelesen? Aber weißt du zum Beispiel auch, warum Judas den Beinamen Ischariot trug?«
    Der Junge zuckte mit den Achseln. Mit solchen Dingen hatte er sich noch nie beschäftigt.
    »Also – es gibt mehrere Erklärungen dafür«, dozierte das Mädchen geschäftig. »Eine davon besagt, dass Ischariot ein Synonym für Iskarier ist, was so viel wie ›Dolchträger‹ oder ›Meuchelmörder‹ bedeutet. So nannten die Römer die Zeloten, zu denen Judas gehörte . A ndere leiten den Beinamen aus dem Aramäischen ab, dann bedeutet er ›Lügner‹.«
    »Und so was lernt ihr im Unterricht?«
    Aurora schüttelte den Kopf.
    »Nö. Das habe ich mir selbst angeeignet. Fakultativ.«
    Das letzte Wort hatte Gleb nicht verstanden, doch ihn beschäftigte gerade etwas anderes.
    »Iskarier, sagtest du? Hm. Ich kannte mal einen, der hieß ähnlich. Er hatte übrigens auch einen Dolch und …«
    Der Junge kam nicht dazu, den Gedanken fortzuführen. Vor ihnen dröhnte metallisches Gehämmer, gewürzt mit markigen Flüchen. Der Lärm kam aus einem Seitenkorridor, der in einen Lüftungsschacht führte.
    Die kindliche Neugier obsiegte über die Angst vor möglichen Gefahren. Die beiden schlichen durch den engen Gang, an dessen Ende sich ein Gebläse befand. Dort waren gleich mehrere Arbeiter zugange. Die einen überprüften den Ventilator im Umkehrbetrieb, die anderen montierten eilig Absperrschieber im Schacht.
    »Wozu soll das gut sein?«, erkundigte sich

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