Die Reise in die Dunkelheit
Mitleidlos wirft er uns in den Strudel der Ereignisse. Nach Gutdünken mischt er das Kartenspiel der menschlichen Seelen, hetzt die einen gegeneinander auf, untergräbt die Bündnisse anderer.
Bisweilen sorgt er dafür, dass die Wege der Suchenden sich nicht kreuzen. Vielleicht, weil uns Wichtigeres zugedacht ist, als einander zu suchen?
Das Schicksal ist wie ein feuriges Rennpferd. Man weiß nie, wann es störrisch wird und ausschlägt. Manche fügen sich dann und lassen die Zügel los . A ndere versuchen, es zu zähmen. Doch zum Herrn über das Schicksal schwingen sich die wenigsten auf.
11
SCHLECHTE NEUIGKEITEN
Gleb schlug die verklebten Lider auf und versuchte vergeblich, sich aufzusetzen. Er ächzte und fasste sich an den Kopf. In diesem Moment musste er an Großvater Palytsch denken, der notorisch zu viel trank und sich morgens oft hundeelend fühlte. Jetzt konnte der Junge ungefähr nachvollziehen, was es bedeutete, verkatert aufzuwachen. Er litt unter ganz ähnlichen Symptomen wie seinerzeit der alte Mann. Seine Schläfen fühlten sich an, als steckten Nadeln darin. Nach der Nacht auf der unbequemen Strohpritsche taten ihm sämtliche Knochen weh, und sein Hals war übelst verspannt.
Die Ruhestunden in der stickigen Kammer hatten nicht gerade erfrischend gewirkt. Gleb versuchte, den bohrenden Schmerz im Schädel zu ignorieren, stand auf und betastete vorsichtig die Wunde an seinem Kopf. Das Blut hatte eine Kruste gebildet. Nichts Tragisches. Verheilt ja wieder.
Der Junge streckte sich und sah sich schlaftrunken um. Erst jetzt bemerkte er die leere Lagerstatt neben sich . A urora war spurlos verschwunden . A uch in der Waschnische fand er sie nicht.
Hatte sie ihn hinters Licht geführt? Sich still und heimlich davongemacht, nachdem sie bekommen hatte, was sie wollte?
Gleb packte seine Habseligkeiten zusammen und suchte auf dem Bahnsteig nach ihr. Er durchkämmte jeden Schlupfwinkel und jede Seitengasse. Ohne Erfolg. Bevor man in diesem Gewühl jemanden fand, verlief man sich eher selbst. Vermutlich hatte sich das Mädchen längst in einen Tunnel abgesetzt. Fragte sich nur, in welchen? Über die weitere Marschroute hatte sie kein Wort verloren.
Andererseits, vielleicht war es besser so? Was war schon dabei, wenn er Wladlens Auftrag nicht erfüllte?
Kurz darauf erledigten sich die Spekulationen von selbst . A m Übergang zur Majak entdeckte Gleb einen bekannten Haarschopf . A ls er näher kam, wurde er Zeuge einer ziemlich kuriosen Szene. Um auf das Territorium der Primorski-Allianz zu gelangen, verhandelte Aurora mit einem Wachposten, der eine alte, fettige Wattejacke trug. Dabei hielt sie ihm eben jene Flinte vor die Nase, die ihr noch am Vortag das Leben gerettet hatte. Der grimmige Typ am Kontrollposten kämpfte mit sich. In seinen Augen glänzte die Gier, doch aus Furcht vor seinen Vorgesetzten zögerte er, das Bestechungsgeschenk anzunehmen.
»Guten Tag, Onkel Karpat!«
Als der Wachmann den Ankömmling bemerkte, setzte er eine Grimasse der Rührung auf.
»Gleb, du? Wie hat’s dich denn hierherverschlagen?«
Der Junge zuckte nur mit den Achseln. Die Ausbüxerin ignorierte er demonstrativ . A urora machte keine Anstalten, sich abermals aus dem Staub zu machen. Stattdessen senkte sie verlegen den Blick.
»Wie du siehst, habe ich in die Allianz rübergemacht«, plapperte Karpat. »Man kann schließlich nicht ewig an der Moskowskaja rumhocken! Schon seit einer Woche bin ich hier an der Majak . Langsam gewöhne ich mich ein … Ach, übrigens – hast du von der Meuterei gehört? Die Sträflinge hinter der Swjosdnaja machen einen Aufstand, weil die Kommunisten schon wieder die Rationen gekürzt haben. Schon eine Strafe, solche Nachbarn zu haben …« Der Mann kratzte sich am unrasierten Kinn. »Palytsch hat immer wieder mal nach dir gefragt . A ch Gott, der Alte hat schwer nachgelassen. Er macht es wohl nicht mehr lang. Du solltest mal zu ihm reinschauen, wenn du in heimatliche Gefilde kommst.«
Den für seine Geschwätzigkeit berüchtigten Karpat kannte der Junge ganz gut. Der Mann war imstande, ihn bis zum Ende der Schicht vollzulabern. Deshalb unterbrach er ihn lieber beizeiten: »Mach ich, ganz bestimmt . A ber jetzt habe ich keine Zeit, tut mir leid. Wir müssen …«
Gleb nahm Aurora bei der Hand und marschierte an dem verblüfften Wachmann vorbei.
»Äh …«
»Die gehört zu mir. Schönen Gruß von Taran übrigens.«
»Ach! Von Taran? Das freut mich aber!« Der Mann strahlte
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