Die Reise in die Dunkelheit
quälten, neue Rätsel hinzugesellt. Ein Tiefschlag reihte sich an den anderen – es war wirklich zum Verzweifeln. Nur Auroras Anwesenheit hinderte ihn daran, seinen Emotionen freien Lauf zu lassen. Er wollte vor ihr nicht als Schwächling dastehen.
Es blieb nichts übrig, als unverrichteter Dinge zum Tross zurückzukehren. Über dessen weiteres Schicksal wurde bereits heftig debattiert . A n der Station gab es mehr als genug Interessenten, die sich das quasi herrenlose Gefährt gern unter den Nagel gerissen hätten. Im Prinzip wäre es auch gar nicht abwegig gewesen, den Zug ins Eigentum der Elektra zu überführen, wäre da nicht die wertvolle Fracht gewesen, mit denen die Draisinen beladen waren. Die Händler redeten sich den Mund fusselig, um die hiesigen Bosse davon zu überzeugen, dass der geregelte Ablauf der Lieferungen nicht behindert werden dürfe. Doch erst die Drohung mit einem Embargo vonseiten des Handelsrings brachte sie schließlich zur Einsicht.
Nachdem der Tross den wenig bevölkerten Bahnsteig der Papa hinter sich gelassen hatte und an einem Ausgang zur Moskowskaja stehen geblieben war, verspürte Gleb auf einmal so etwas wie Lampenfieber. Denn nur wenige Schritte entfernt, hinter den vorsorglich geschlossenen Schiebetüren, befand sich sein ehemaliges Zuhause …
»Hast du vor irgendwas Angst?«, fragte Aurora, als sie das nervöse Mienenspiel ihres Begleiters bemerkte.
Der Junge schüttelte den Kopf und senkte den Blick. In diesem Augenblick fiel es ihm schwer, sich selbst einzugestehen, dass ihn die unmittelbare Nähe seiner Heimatstation beklommen, vielleicht sogar ein bisschen traurig machte. Er verband so viele Erinnerungen mit diesem Ort. Gute und schlechte, nostalgische und unangenehme – sehr verschiedene eben.
Bei seinen Ausflügen vom Krankenhausbunker zur Swjosdnaja war er stets darauf bedacht gewesen, möglichst unbemerkt an der Moskowskaja vorbeizukommen. Er wollte nicht an jenen denkwürdigen Tag erinnert werden, an dem er zum Objekt eines Geschäfts geworden war.
Inzwischen hatte sich die Schiebetür geöffnet. In der Nische erschien ein dürrer alter Mann, der sich auf eine von Hand zurechtgehobelte Holzkrücke stützte.
»Zur Seite, Jungvolk! Ihr stört beim Abladen!«
Als der gestrenge Greis Glebs schüchternes Lächeln bemerkte, blieb er empört stehen.
»Du findest das lustig, Bürschchen? Warte nur, gleich bekommst du meinen Riemen zu spüren, das wird dich lehren, über ältere Leute zu lachen!«
Der Alte fummelte umständlich an seiner Hose. Dabei flatterte sein grauer Haarschopf lustig im Tunnelwind. Der Junge konnte nicht anders, als über beide Ohren zu grinsen. Er war so gerührt, dass seine Augen juckten.
»Palytsch …«
Der alte Mann sah auf und blinzelte kurzsichtig.
»Gleb? Bist du das?«
Der Junge fiel dem Greis um den Hals und vergrub das Gesicht in seiner nach Kernseife riechenden Wattejacke. Tränen erstickten seine Stimme, doch in diesem Moment bedurfte es keiner Worte . A uch Palytsch hatte es vor Rührung die Sprache verschlagen. Er schluchzte und klopfte Gleb väterlich auf den Rücken.
Aurora stand etwas abseits daneben. Erst als der Alte auf sie aufmerksam wurde, grüßte sie schüchtern. Großvater Palytsch erwies sich als freundlicher und trotz seines Alters sehr energischer Mann. Gleb behandelte er wie seinen leiblichen Enkel. Das merkte man allein schon an der überbordenden Herzlichkeit in seiner Stimme.
Mit jugendlich anmutendem Überschwang führte Palytsch die Kinder über die Station, plauderte über Neuigkeiten und zeigte ihnen stolz die frisch eingerichtete Schuhmacherei, die der Siedlung bescheidene, aber stabile Einkünfte versprach.
Gleb zog es das Herz zusammen, als sie an dem Wohnblock vorbeikamen, in dem er mit seinen Eltern zehn lange und glückliche Jahre verbracht hatte. Der Junge winkte einigen Bekannten zu und ließ den Blick über das vertraute Ambiente schweifen . A n jeder Ecke kam ein Kaleidoskop von Erinnerungen in ihm hoch.
»Ja, ja, so ist das hier bei uns …«, sinnierte Palytsch mit einem tiefen Seufzer und rieb sich das abgearbeitete Kreuz. Mit gesenktem Blick setzte er hinzu: »Möchtest du nicht kurz zu Nikanor reinschauen? Der geht bald hinüber und mit dieser Last auf der Seele …«
Gleb stutzte und sah den Greis besorgt an.
»Was heißt: Er geht hinüber? Was ist denn passiert mit ihm?«
»Gehen wir. Du wirst es selbst sehen.«
Palytsch krückte zur Krankenstation . A n einigen leeren Liegen
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